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Die Gleichheit
ablehnende Stellung der Sozialdemokratie zu verschiedenen Etatsforderungen benußt, der Regierung hier einen Reichsanwalt zu streichen, dort die Tafelgelder der Seeoffiziere zu beknappen usw. In diesem lepteren Punkte hatte es sich allerdings zu weit vorgewagt. Staatssekretär v. Tirpik drohte mit dem Rücktritt, und solch einen Konflikt wollte das Zentrum nicht wagen, es trat schleunigst den Rückzug an. Die Gerüchte, daß es auf eine Reichstagsauflösung hinarbeite, wollen indes nicht verstummen. Ob sie begründet sind, ist nicht zu erkennen. Die Reden der Zentrums sprecher bei der Beratung des Antrags auf Aufhebung des Jesuitengesetzes boten keinen Aufschluß.
Dieser Zentrumsantrag wurde mit Hilfe der Sozialdemokraten und der Polen angenommen. Die Sozialdemokratie stimmte für ihn, weil sie grundsäßliche Politik treibt und ihre Grundsäße sie verpflichten, jedes Ausnahmegesetz zu bekämpfen. Das Zentrum hingegen, obgleich es angeblich für das gleiche, allgemeine Wahlrecht ist, hat sich nicht gescheut, unter Berufung auf Kompetenzbedenken, den sozialdemokratischen Wahlrechtsantrag zu Falle zu bringen, wonach jeder Bundesstaat eine nach dem allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht das beiden Geschlechtern vom 20. Jahre an zukommen sollte gewählte Volksvertretung haben sollte. Bei der Interpellation der Polen über das preußische Enteignungsgesetz hatten die Schwarzen solche Kompetenzbedenken nicht. Die Nationalliberalen sind natürlich gegen das freie Wahlrecht, der Fortschritt aber entsetzt sich ob des„ Wahlrechts für Jugendliche", das die Sozialdemokratie fordere, und ebenso über das Frauenwahlrecht. Er ist zwar nicht dagegen bewahre, er ist doch fortschrittlich! aber zurzeit ist er doch auch noch nicht dafür. Aber er will sich dem Frauenwahlrecht schrittweise nähern. Wann er es erreicht haben wird, das wissen die Götter allzu schnell wird er bei seinen Trippelschritten nicht hingelangen. Die Verhandlung im Reichstag lieferte wieder den Beweis, daß die Sozialdemokratie in Kampfe um eine wirkliche Wahlreform ganz allein steht. Die Fortschrittliche Volkspartei bemüht sich, das bei den Vorbereitungen zu den preußischen Landtagswahlen besonders zu erweisen. Sie schließt feste Bündnisse mit den Nationalliberalen ab und hat sich in Breslau sogar ausdrücklich verpflichtet, auf keinen Fall für Cozialdemokraten zu stimmen!
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In Belgien und Ungarn stehen die Zeichen auf Sturm. Die Arbeiterschaft beider Länder rüstet mit aller Macht zum C'eneralstreit, um die Wahlreform zu erzwingen. Die in Belgien herrschenden Klerifalen verweigern die Reform überhaupt. Der große Rat des Proletariats hat den Beginn des Streits bereits auf den 14. April festgesezt. In Ungarn ist ein Wahlrechtsentwurf in der Reichstagskommission angenommen worden. Da er aber ein wahrer Hohn auf den Begriff einer Wahlreform ist, so wird das Proletariat alles daransezen müssen, das forrupte Privilegienparlament von der Straße aus vorwärtszutreiben.
Gewerkschaftliche Rundschau.
H. B.
Die Vermittlung von Streitbrechern entwickelt sich in Deutschland zu einem blühenden Erwerbszweig, der der deutschen Industrie auf dem Weltmarkt neue Lorbeeren zu bringen bestimmt erscheint. Kommen doch aus dem Ausland bereits die chrenvollsten Aufträge auf Massenlieferung lebender Ware. Die bekannte Firma Witwe Müller" in Hamburg- Altona ist ein weitverzweigtes Unternehmen geworden, das in verschiedenen Städten Generalvertreter und ein Heer von Agenten unterhält. Diese ehreniverte Gesellschaft wird ganz nach Art sonstiger Geschäftsvertreter und Agenten entlohnt. Die Generalvertreter erhalten ein festes Monatsgehalt von 250 Mt. und daneben Provi fionen: 1,50 Mt. pro vermitteltes Exemplar. Vom Hauptbureau aus werden die einzelnen Filialen benachrichtigt, wieviel Ware und wohin sie zu liefern haben.
So wurde der Filiale in Essen aufgetragen, aus dem r beinisch- westfälischen Industriegebiet 4000 bis 5000 Mann Arbeitswillige aufzubringen. Diese sind nach Belgien verschachert worden als Streifbrecher in dem dort drohenden Generalstreif. Allein 500 der Leute sind für Antwerpen bestimmt. Nach der gleichen Stadt sollen übrigens auch sofort 50 Streifbrecher versandt werden zum Ausladen zweier Schiffe, deren Mannschaft um beffere Arbeitsbedingungen kämpft. Weiterhin hat eine Mailänder Glasfabrik den Ablauf ihres Tarifes den deutschen Streitbrecherlieferanten signalisiert und um BereitstelTung der notwendigen Anzahl von Rausreißern ersucht. So wird auch das Ausland mit Hingebrüdern, dieser Blüte deutscher kapitalistischer Kultur, beglückt. Wir entbehren sie gern. Sicherlich
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werden sie das Ansehen des Deutschtums im Ausland mächtig heben. Wird die deutsche Regierung auch in der Fremde ihren starken Arm über diese wertvollen Elemente halten; wird sie darüber wachen, daß ihnen auch ausländische Behörden mit dem Wohlwollen begegnen, das ihnen der Staat in der Heimat in so reichem Maße zukommen läßt? Freilich ist sie nicht dazu berufen, den Brofit ausländischer kapitalistischer Ausbeuter zu wahren, und ebenso wird ihr an sich das Los der verkuppelten Sklaven gleichgültig sein, aber in deren Person die Interessen der Streikbrechervermittler zu schüßen, dazu wird sie sich für verpflichtet halten.
Zwar hat das höchste deutsche Gericht einmal die gewerbsmäßige Streifbrechervermittlung als ein unsittliches Gewerbe bezeichnet, doch das geschah wohl nur in einer vorübergehenden, schwachen Anwandlung von Rechtsempfinden. Andere Gerichte betätigen auf alle Fälle entgegengesezte Anschauungen von sittlich und unfittlich. Und mun vollends die objektivste Behörde der Welt", die deutsche Staatsanwaltschaft! Welcher Wertschäßung die Streifbrechervermittler sich bei ihr erfreuen, zeigt folgender Fall. Ein Angehöriger der edlen Gilde fühlte sich in seiner- Ehre gekränkt, weil eine sozialdemokratische Zeitung mit Bezug auf sein Handwerk von Seelenverkäufern geschrieben hatte. Der Biedermann brauchte nicht erst den Weg der Privatklage zu beschreiten, die Staatsanwaltschaft nahm sich des ehrverletzten Bürgers an und erhob Anklage im öffentlichen Interesse". 200 Mt. Strafe sollte der Redakteur jener Zeitung wegen der Beleidigung blechen, und nur mit Rücksicht auf die Person des Beleidigten erkannte das Gericht auf 50 Mt. Dieser ehrenwerte Herr war nämlich erst zehnmal borbestraft, darunter achtmal wegen gemeiner Vergehen: Urtundenfälschung, Betrug, Diebstahl, Hehlerei usw. Der Staatsanwaltschaft waren die Vorstrafen ihres Schüßlings selbstverständlich bekannt, trotzdem bemühte sie sich, seine Ehre zu reparieren. Der warmen Liebe, mit der die Schirmerin des Rechts solches Gesindel umfängt, entspricht auf der anderen Seite die Strenge gegen ehrliche, kämpfende Proletarier. Zwei Arbeiter hatten sich bor der Straffammer in Aurich zu verantworten, weil sie bei einem Streit Arbeitswillige belästigt, Hausfriedensbruch verübt und jemand zum Meineid verleitet haben sollten. 30 Zeugen waren aufgebofen worden, sie sagten jedoch meist zugunsten der Angeklagten aus. Troßdem beantragte der Staatsanwalt gegen die beiden Arbeiter je anderthalb Jahre Zuchthaus! Das Gericht kam zur Freisprechung wegen mangelnder Beweise. Die Urteile der Klassenjustiz sind meist tragisch für den Arbeiter. In einer Entscheidung des Düsseldorfer Gewerbegerichts tommt auch einmal die Komik zur Geltung. Ein Arbeiter hatte vor diesem Gericht wegen unberechtigter Entlassung geklagt. Gr wurde mit seinen Klageansprüchen abgewiesen, weil er den Bortier beleidigt haben soll. Das Gericht verstieg sich zu dieser Begründung: So wie der Schuhmann als Vorgesetter des Bürgers anzusehen ist, so darf man den Portier als Vorgesetzten des Arbeiters betrachten! Das ist doch wenigstens einmal ein Wit!
Die Tarifverhandlungen in den vier großen Gewerben, im Baugewerbe, in der Holzindustrie, im Schneidergewerbe und Malergewerbe find immer noch nicht zu Ende geführt. Jm Baugewerbe sekten die zentralen Verhandlungen am 24. Februar wieder ein. Die Unternehmer versuchten in der Zwischenzeit Stimmung für ihre Sache zu machen. Vor der Tarifbewegung haben sie in Rundschreiben ihre Mitglieder angewiesen, möglichst vor Ablauf des Tarifes eilige Bauten fertigzustellen und Berträge nur unter der Bedingung abzuschließen, daß bei eintretenden Streit ihnen langfristige Termine zur Beendigung zugebilligt würden. Später haben sie durch eine Umfrage feststellen lassen, wie die Baukonjunktur im Jahre 1913 fich gestalten werde. Natürlich verstanden die Unternehmer den Wink, sie bezeichneten die Konjunktur als schlecht, sehr schlecht, geradezu trostlos. Die von dem Ausbeutertum gespeiste bürgerliche Presse lamentiert nun steinerweichend, daß in dieser schlimmen Zeit die Arbeiter noch Forderungen stellen oder gar in frivoler Weise ans Streifen denken. Für das Schneidergewerbe hat inzwischen ein Kollegium von Unparteiischen eine einstweilige Entscheidung für 43 Ortstarife treffen müssen. In 51 Städten waren die Tarife gekündigt werden, nur in 8 von ihnen hatten sich die organisierten Arbeiter und Unternehmer örtlich geeinigt. Die Parteien haben in Aussicht genommen, daß mit dem 1. März 1916 ein Reichstarif in Kraft treten soll. Deshalb haben die Unparteiischen beschlossen, daß die Frage des Zuschlags für Heimarbeit und der Lieferung von Nähzutaten bis zu diesem Zeitpunkt zurüdzustellen sei. Den Unternehmern wurde empfohlen, möglichst überall Betriebswerkstätten einzurichten, um dadurch der Ausbreitung der Hausindustrie zu