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Die Gleichheit

solche der vierten oder noch höherer Erbrechtsordnungen oder Abkömmlinge von Großeltern in der Seitenlinie vorhanden sind. Ein Viertel der Reichseinnahme soll dem Bundesstaat zufließen, der die Erhebung besorgt. Große Bedeutung kommt diesem Projekt nicht zu.

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Um so größere Bedeutung hat die Art, wie sich die Vorlage mit der Besitzsteuer auseinandersetzt. Die Lösung geht um das Problem herum und ist ein aufgelegter Schwindel, der dem verehrten Publikum vortäuschen soll, daß das Verlangen nach einer allgemeinen Besitzsteuer erfüllt werde. In Wirklichkeit soll statt der direkten Reichssteuer auf Vermögen oder Erbe eine Abgabe der Bundesstaaten an das Reich eingeführt werden. Diese zahlen solche Abgaben schon bisher unter dem Namen der Matrikularbeiträge. Nach dem Finanzbedarf des Reiches bemessen, werden sie auf die Einzelstaaten nach Maß­gabe der Einwohnerzahl verteilt. Bei den neuen Beiträgen an die Reichskasse soll aber nicht der rohe Maßstab der Be­völkerungszahl, sondern der der Steuerkraft entscheiden, die nach dem Ergebnis des Wehrbeitrags festgestellt wird. Wegen dieser Verbesserung des Verteilungsmaßstabs werden die neuen Matrikularbeiträge als veredelte bezeichnet. Was jedoch gar nichts daran ändert, daß sie zu einer Vorspiegelung falscher Tatsachen dienen sollen, insofern man sie nämlich als voll­gültigen Ersatz für eine Reichssteuer ausgibt. Diese ver­cdelten Matrikularbeiträge werden in der Höhe von 1,25 Mr. pro Kopf der Bevölkerung erhoben und daher für das ganze Neich rund 80 Millionen Mark betragen. Trotz allen falschen Scheins werden sie zu einem erheblichen Teile auf die Nicht­und Minderbemittelten abgewälzt. Denn den Bundesstaaten wird nicht etwa vorgeschrieben, daß sie die neuen Steuern, die sie wegen der veredelten Matrikularbeiträge ausschreiben müssen, auf das Vermögen oder das Erbe zu legen haben. Nein, sie können sie auch auf das Einkommen oder auf den Ertrag legen, und über die Grenze nach unten, über den Grad der Belastung werden ihnen keinerlei Vorschriften gemacht. Das alles wird ihnen überlassen, das heißt den bundesstaat­lichen Regierungen und den Landtagen. Und so haben diese Instanzen die Möglichkeit, statt einer allgemeinen Besitz­steuer, die die unteren Stufen frei läßt, Zuschläge zur Ein­kommensteuer zu erheben, die auch die kleinen und kleinsten steuerbelasteten Einkommen mittreffen, die in Preußen bis zu 900 Mr., in Sachsen   und verschiedenen anderen Staaten gar bis 400 Mt. hinuntergehen. Der angebliche vollwertige Ersatz der Neichssteuer darf also zum Teil in einer Belastung von Proletariern und kleinen Leuten bestehen. Oder da auch die Besteuerung des Ertrags zugelassen ist in gewissen Ge­werbesteuern, die die Landwirtschaft nicht treffen. Und wer wollte behaupten, daß die Klassenlandtage Preußens, Sachsens und anderer Vaterländer zu solchen Maßnahmen nicht fähig wären! Aber auch in den aus allgemeinen, gleichen und direkten Wahlen hervorgegangenen Landtagen Süd­ deutschlands   ist die Mandatsverteilung unter den Parteien den besitzenden Steuerdrückebergern günstiger als im Reichs­tag. Daß dieses Parlament des allgemeinen, gleichen, ge­heimen und direkten Wahlrechtes feine Gewalt über das Portemonnaie der Besitzenden bekomme, das war ja die Hauptsorge der Junker. Und die Regierung hat gehorsam ihren Befehl erfüllt. Freilich ist noch eine Reichsvermögens­zuwachssteuer vorgesehen für den Fall, daß irgendein Bun­desstaat die Erhebung der veredelten Matrikularbeiträge" nicht bis 1916 in der vorgeschriebenen Weise regeln sollte. Da das aber natürlich nirgends eintritt, so ist dieser Entwurf nur ein Schaugericht, das ungegessen bleibt. Nebenbei be­merkt, ist solch eine Vermögenszuwachssteuer durchaus unzu­reichend, da sie alles Vermögen steuerfrei läßt, das bis zu ihrem Inkrafttreten angesammelt wurde. Und außerdem be­deutet sie eine enorme Begünstigung der Großgrundbesitzer gegen die Besizer mobilen Kapitals, weil sich Wertsteigerung des Grundbesitzes schwer feststellen läßt.

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Jämmerliches Flickwerk und trauriger Schwindel ist es, was Bethmann Hollweg   als Dedungsvorlage präsentiert.

Nr. 15

Diese erbärmliche Flickendecke langt obendrein vorn und hinten nicht, und der Windstoß einer Krise reißt sie in tausend Feßen. Denn wenn die Reichseinnahmen nicht ständig wachsen, so stürzt die mühsam errechnete Deckung der dauernden Aus­gaben einfach zusammen. Diese Bethmannsche Steuermache, deren Hauptstück, die angebliche Besitzsteuer, ein frecher Schwindel ist, stellt im ganzen eine Vorspiegelung falscher Tatsachen dar. Sie ist keine Deckung, sondern der Versuch, das Fehlen einer wirklichen Deckung durch unsolide Finanz­manöver zu verschleiern bis zum unvermeidlichen Krach. Kampf bis aufs Messer diesem Deckungsschwindel! Das ist die Losung der Sozialdemokratie! Ihre Abgeordneten werden im Reichstag   nach ihr handeln- das Beste aber muß H. B. der wuchtige Einspruch der Massen tun!

Joseph Dietzgen   zum Gedächtnis.

Ein Vierteljahrhundert ist seit dem 15. April 1888 ver­strichen, an dem in Chicago   der Tod Joseph Dietzgen   von hinnen genommen hat. In diesen 25 Jahren hat sich der Lauf der kapitalistischen   Entwicklung mit steigender Schnel­ligkeit und Wucht abgespielt. Immer vollständiger ist der Kapitalismus in den Ländern zur Herrschaft gelangt, in denen er bereits früher festen Fuß gefaßt hatte, und immer neue Teile der Welt hat er seinem unersättlichen Bedürfnis nach Ausdehnung und Profit unterjocht. Aber mit ihm ist auch sein Todfeind gewachsen, der ihn beerben muß: das Proletariat, das im zunehmenden Bewußtsein seiner ge­schichtlichen Klassenlage die kapitalistische Ordnung bekämpft. Klar zeichnet sich ab, daß es so kommt, wie es auch Joseph Dießgen im Geiste geschaut, der bewunderungswürdig klar­blickende Arbeiterphilosoph", der an die Zukunft der So­zialdemokratie" glaubte und der Befreiung des werktätigen Volkes aus geistiger und sozialer Knechtschaft sein bestes. Herzblut widmete. Was dieser schlichte, geniale Denker aus der Werkstatt gewesen ist, und was er Bedeutendes gewirkt hat, das verdient allen gegenwärtig zu bleiben, die festen Schrittes, den Blick unverrückt der Zukunft zu­gewandt, sich durch die Not und Fährnisse der bürgerlichen Gesellschaft vorwärts kämpfen. Es ist das typische Los der Handarbeitenden in der heutigen Gesellschaft, das uns in seinem Leben entgegentritt, aber verklärt und geadelt durch die unbezwingbare Geistessehnsucht nach Wahrheit, die emporträgt und zum Kämpfer für die Freiheit macht. Da­durch ist seine Persönlichkeit wirkend und beispielgebend ge­worden.

Joseph Diezgen wurde am 9. Dezember 1828 in Blanken­ berg   bei Köln   geboren, im anmutigen Siegtal, zu dem es den Mann später immer wieder aus dem stürmisch bewegten Leben zog. Er war der Sohn einer freien Bürgerfamilie, die seit Jahrhunderten im Siegerland   saß. Wie der Groß­vater, so betrieb der Vater eine Gerberei, und auch Joseph Diezgen hat das ehrsame Handwerk erlernt und ausgeübt. Der lebhafte Knabe entwickelte sich zum sinnigen, wissens­durstigen Jüngling, der in der Werkstatt des Großvaters gern das Buch neben der Arbeit hatte. Namentlich waren es schöne Literatur, Nationalökonomie und Philosophie, deren Studium ihn mächtig lockte; außerdem lernte er ohne Anleitung Französisch lesen und ziemlich geläufig sprechen. In der revolutionsschwangeren, geistig- politischen Atmo­sphäre der vierziger Jahre erwachte sein tiefstes Sein. Im sogenannten tollen Jahre bin ich erst in meine Welt ge­treten," erklärt Dießgen im Vorwort zum Akquisit der Phi­losophie". Mit leidenschaftlichem Interesse verfolgte der junge Mann die Kämpfe der Meinungen und der Waffen um die Freiheit. über politischen, sozialen Begriffen grübelnd und sie nach ihrem lebendigen Sinn an der Wirklichkeit messend, prüfte er die Schlagworte, Programme und Taten der poli­tischen Parteien. So führte ihn der suchende Geist zur äußersten Linken. 1848 war Joseph Dießgen ein überzeugter Parteigänger der Neuen Rheinischen Zeitung  ", des ersten