Nr. 15

Die Gleichheit

sozialistischen Tageblatts in Deutschland  , das von Karl Mary und seinen Freunden in Köln   herausgegeben wurde, und er war mehr als das: einer der ersten verständnisvollen Bekenner und Verfechter des Kommunistischen Manifestes".

Unter dem Waffengeklirr war die Frage nicht von seiner Seite gewichen: Was ist die Freiheit, die die einen so in­brünstig herbeirufen, die die anderen tödlich hassen? Das Kommunistische Manifest" hatte ihm die Antwort darauf gegeben. Dießgen war sich klar darüber geworden, daß die Freiheit geschichtlich, im Zusammenhang mit den gesell­schaftlichen Verhältnissen betrachtet werden müsse, daß sie nicht der blutlose Begriff sei, mit dem die bürgerlichen Libe­ralen und Demokraten das Ausbeutungsbedürfnis des jungen Kapitalismus schmückten. Er wußte, daß der Begriff der menschlichen Freiheit nur zur Wirklichkeit werden konnte, wenn die kommunistische Ordnung der Dinge die Gesell­schaft von Grund aus unwälzte. Aber seinem forschenden Geiste genügte es noch nicht, davon überzeugt zu sein, daß die soziale Entwicklung unaufhaltsam diesem Ziele ent­gegenführe. Er heischte Auskunft, Klarheit über die Stel­lung des Menschen im Weltganzen und über sein eigenes Wesen, über die Natur, die Betätigung des menschlichen Geistes selbst, als dem Organ, das uns die Erkenntnisse ver­mittelt. So fam Joseph Dieggen wie er selbst schreibt von der Politik zur Philosophie und von der Philosophie zur Erkenntnistheorie. Die Frage nach dem Wesen der menschlichen Kopfarbeit" hat ihn von da an nicht wieder los­gelassen. Sie blieb zusammen mit seiner sozialistischen Ge­schichtsphilosophie und als ein organischer Teil davon im Mittelpunkt seines Studierens und Nachdenkens. Ebenso zäh als leidenschaftlich hat er zeitlebens mit ihr gerungen.

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Joseph Diezgen erlebte dabei die Pein, die Tragik des Handarbeitenden, dessen Zeit und Kraft von der Sorge um den Lebensunterhalt verzehrt wird, während der ringende Geist nach Nahrung und schöpferischem Ausleben schreit. Sicherlich sind ihm die tiefsten Tiefen materieller Not er­spart geblieben, die der Proletarier nur zu oft durchwandern muß. Jedoch das Joch, das der wissenschaftlich Forschende trägt, solange der Arbeitende nicht frei ist, der Zwang des Verdienenmüssens, hat ihm die Seele wund gerieben. Durch sein Leben geht das Trachten nach einer wirtschaft­lichen Eristenz, die ihm geistige Betätigungsmöglichkeiten zu sichern vermöchte. Dreinal versucht er das Glück in Ame­ rika  , zwischen dem zweiten und dritten Aufenthalt dort be­kleidet er eine sehr gute Stellung als technischer Leiter einer großen staatlichen Gerberei in St. Petersburg  . Er ist Ger­ber, Anstreicher, Lehrer, Journalist, Tramp, Kaufmann. Es gelingt ihm nicht, sich den Fesseln der mühe- und sorgen­reichen Brotarbeit zu entziehen. Hente durch die Gunst der Umstände gelockert, werden sie morgen schon wieder straffer angezogen. Der Handwerfer und kleine Raufmann fann der übermächtigen Konkurrenz der großen Kapitalisten nicht standhalten. Der Sozialist betätigt jederzeit eine brüderliche Gesinnung, die mehr als einmal große materielle Verluste im Gefolge hat. Dem Arbeiterphilosophen" ist die Berufs­arbeit kein Lebensinhalt, nur unentrinnbare Notwendigkeit, eine innere Stimme wehret ihm, ihr alles zu geben, was sie von ihm fordert. Erst der Erfolg und die Liebe des Sohnes haben Joseph Dietgen nicht allzu lange vor seinem Tode jene Befreiung von der gemeinen Alltagssorge geschaffen, nach der er um seines Geisteslebens willen gestrebt hatte.

Er hat sein Geschick mit dem Stolze des Schaffenden ge­tragen, der die Bedeutung und den Wert der Arbeit kennt, und mit der Gelassenheit des Weisen, den die gesellschaft­lichen Zusammenhänge klar sind, denen sich der einzelne nicht zu entziehen vermag. Das Bewußtsein seiner sozialen Ge­bundenheit hielt ihn nicht ab, sich stets aufs neue das höchste Ziel zu stecken, es bewahrte ihn aber vor Mutlosigkeit, wenn es seinen Händen und Blicken in weite Fernen zu ent­schweben schien. In geradezu idealer Weise hat er neben dem Du mußt" der Handarbeit das Ich will" der Kopf­

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arbeit zur Geltung gebracht. Aus der Werkstatt oder dem Kramladen, von der Arbeit in Garten und Feld trat er in die weiten Gefilde der wissenschaftlichen Forschung. Er grü­belte über Büchern und gelehrten Systemen, er befragte die Welt der Natur und die Welt der Gesellschaft, und aus eigener Kraft machte sich der Handarbeiter" eine allgemeine Bildung und eine philosophische Schulung zu eigen, um die ihn viele Gebildete", manche zünftigen Gelehrten beneiden fönnten. Hartnäckig hat er dabei nach der Antwort auf die Frage gesucht, die ihm wie ein Stein im Kopfe saß". Und die Schriften, in denen er das Ergebnis seines Studierens und Nachdenkens niedergelegt hat, verdienen noch heute von den Proletariern gelesen zu werden, die nach Erkenntnis, nach Befreiung des Geistes von den Lehren kirchlicher und weltlicher Dunkelmänner dürften. Wir nennen da Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit", Das Afquisit der Philo­sophie" und Kleinere philosophische Schriften".*

Dietzgen steht in seiner Hinterlassenschaft als ein genial veranlagter, selbständiger philosophischer Denker da, der tief durchdrungen ist von dem Bewußtsein des Zusammenhanges, des Ineinanderfließens, der Einheit alles Seins in der Natur wie in der Gesellschaft und damit auch im Menschen. Mit zwingender Logik sucht er auf dem Wege gedanklicher Spekula­tionen, einer fiefdringenden Bergliederung der Begriffe den menschlichen Geist und seine Arbeit aller metaphysischen Hüllen zu entkleiden, die Religion und Philosophie um ihn gesponnen haben. Er will ihn nackt und bloß zeigen, wie er ohne Gegensatz zur Materie in allen seinen Äußerungen und Erscheinungen ein Gegenstand der naturwissenschaftlichen und geschichtlichen Forschung werden muß. Und wenn er bei diesem Bemühen hier und da in der Beurteilung philosophischer Systeme und der Bewertung eigener Forschungsergebnisse geirrt hat, so enthalten seine Schriften nichtsdestoweniger eine reiche Summe vorwärtstreibender, befreiender Erkennt­nisse von grundlegender Bedeutung, die sich als wertvolle Bausteine einer einheitlichen geschlossenen sozialistischen   Welt­anschauung einfügen.

Soſeph Dietgen ſtans

Joseph Dietgen stand als Arbeiterphilosoph" mit mar­tigen Knochen auf der festgegründeten dauernden Erde des historischen Materialismus, der sozialistischen   Geschichtsauf­fassung, so daß er bis zu seinem letzten Hauch ein Kämpfer für den Sozialismus geblieben ist. Der 21jährige Jüngling wurde von der Reaktion nach Amerika   geheßt, weil er im Re­rolutionsjahr auf einem Stuhle stehend in der Hauptstraße des Heimatdorfes die Bauern aufzubezzen" versucht hatte und auch sonst als Roter" berüchtigt war. Der reife Mann gehörte zu den ersten Wenigen, die das 1867 erschienene ,, Kapital" von Karl Marx   studierten und verstanden. Schon 1869 versuchte er dieses gewaltige Werk durch Artikel im ,, Demokratischen Wochenblatt" dem Erfassen der Arbeiter­klasse näher zu bringen. Er war Mitglied der Internationale und stand im freundschaftlichen Verkehr mit Marg. Durch Beiträge in der sozialdemokratischen Presse und durch Vor­träge hat Joseph Diezgen für die Ausbreitung der sozialisti­ schen   Lehre gewirkt. 1878, zur Zeit der Attentatsheze gegen die Sozialdemokratie, wurde er dafür in Ketten ins Gefäng­nis zu Köln   geführt. Obgleich er seiner Veranlagung nach nicht für den politischen Tageskampf bestimmt war, hielt er es für die Pflicht seiner überzeugung, unter den schwersten Stürmen des Sozialistengesetzes 1881 als Reichstagskandidat für den Kreis Leipzig- Land das Banner der Geächteten voranzutragen.

Kaum zum dritten Male in den Vereinigten Staaten  gelandet, übernahm er 1884 die Nedaktion des eben ge­gründeten Parteiorgans Der Sozialist", die er bis zu seiner übersiedlung nach Chicago   1886 führte. Und hier offenbarte sich abermals in einer Zeit voller Bedrängnisse und Gefahren die festgewurzelte überzeugungstreue, die * Diese Bände sind bei J. H. W. Diez Nachf., Stuttgart  , er­schienen. In dem zuerst genannten Werk lohnt die Biographic Tietgens allein schon die Anschaffung.