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Die Gleichheit
menschliche Größe des Mannes. Die Explosion einer Bombe auf dem Heumarkt zu Chicago hatte im Mai 1886 alle Furien der bürgerlichen Gesellschaft gegen die junge Arbeiterbewegung entfesselt. Eine Gewalt- und Polizeiherrschaft, die weder Recht noch Geseze achtete, kehrte sich insbesondere gegen alle, die sich aus unklarer Erkenntnis und leidenschaftlichem Empfinden Anarchisten nannten, auch wenn sie in Theorie und Braris nichts mit den Anhängern der Propaganda der Tat gemein hatten. Das alles traf auf die Redakteure der„ Chicagoer Arbeiterzeitung" zu. Sie wurden verhaftet und endeten ein Jahr später als Opfer eines scheußlichen Justizmordes am Galgen. In den Tagen rasender Gesezlosigkeit, wo die Leitung der sozialistischen Partei weit von den„, Chicagoer Anarchisten" abrückte, wo alle besonnenen Leute" die verhafteten Redakteure verleugneten, wo selbst einige Herausgeber der ,, Arbeiterzeitung" flüchteten: sprang Joseph Dietzgen opferbereit in die Bresche. Ungerufen übernahm er den gefährlichen Posten als Chefredakteur ,,, weil es ihm notwendig dünkte, daß es in solcher Zeit den Chicagoer Arbeitern nicht an einem Organ fehle". Bis zu seinem Tode blieb er Mitarbeiter des Blattes. Meinungsunterschiede trennten ihn von den Anarchisten, zumal von den„ Mostianern", und oft genug war er von der„ Chicagoer Arbeiterzeitung" verhöhnt und beschimpft worden. Jedes Wort des Lobes dünft uns klein angesichts der Größe seiner Gesinnung und seines Handelns.
Im Kampfe mit des Lebens Nöten, im Ringen um Klarheit und Wahrheit ist Joseph Diezgen zu einer der lichtesten und kraftvollsten Persönlichkeiten geworden, die überragend, richtunggebend am geschichtlichen Wege der Arbeiterklasse stehen. Ein Eigener, der nie mit seiner Besonderheit proßzte, sondern sich ganz als dienendes, wirkendes Glied einer großen Gemeinschaft fühlte, ein Mann, dessen Wesen von edelster Menschlichkeit strahlte. Das war die starke Wurzel seiner Kraft als Philosoph und Vorkämpfer des Sozialismus. Nicht bloß in seinem Werke, auch in seinem Wesen bleibt er uns lebendig.
Von der Frauen- und Kinderarbeit in Hessen .
Nach dem Jahresbericht der Gewerbeaufsicht für das Großherzogtum Hessen- der leider im allgemeinen recht dürftig ist waren 1911 in den Betrieben mit mindestens 10 Arbeitern sowie den ihnen gleichgestellten Anlagen insgesamt 25 654 Arbeiterinnen beschäftigt gegen 23 688 im Jahre 1910. Von diesen geseglich geschützten Arbeiterinnen waren:
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12 gegen 5 im Vorjahr 4717 4340= 9871 0 8947 M 11054 W 10396 M
Unter 14 Jahren. Von 14 bis 16 16 21 Über 21 In allen Altersklassen hat die Zahl der beschäftigten Arbeiterinnen zugenommen. Also auch in Hessen haben sich die Unternehmer gehütet, ihre Drohung wahrzumachen und möglichst viele Arbeiterinnen nur deswegen zu entlassen, weil die nach dem Gesez zulässige längste Dauer der täg lichen Arbeitszeit herabgesetzt worden ist. Das Gegenteil hebt zum Beispiel der Gewerbeaufsichtsbeamte in Gießen in seinem Jahresbericht als bemerkenswert hervor. Nämlich daß die Beschäftigung von Arbeiterinnen in der gesamten Industrie der Provinz, besonders aber in der Nahrungsmittelindustrie sowie im Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe auch im letzten Jahre wieder stetig angewachsen ist. Am bezeichnendsten ist in dem Jahresbericht der hessischen Gewerbeaufsicht für 1911 diese Mitteilung des Beamten in Mainz :
" Infolge der Einschränkung der Arbeitszeit für Arbeiterinnen find offenbar mehr Arbeiterinnen eingestellt. Es ist also nicht, wie früher befürchtet wurde, durch die Beschränkung der Arbeitszeit eine Abnahme der Anzahl der Arbeiterinnen eingetreten."
Nr. 15
Um so bedauerlicher ist es, daß auch in Hessen noch immer sehr viel überarbeit zugelassen wird. Solche ist gestattet worden an den Wochentagen außer Sonnabend:
Für 5963 Arbeiterinnen gegen 5688 im Vorjahr
3255 Betriebstage 112051 Überstunden
M
2952- 116300=
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Zugenommen hat die Zahl der Arbeiterinnen, die zur überarbeit gezwungen wurden, und ebenso die Zahl der Tage, an denen überarbeit geleistet werden mußte. Einen geringen Rückgang weist dagegen die Zahl der bewilligten überstunden auf. Bei der überarbeit an den Sonnabenden aber sehen wir eine Zunahme der bewilligten Überstunden von 43 086 im Vorjahr auf 44 476. Hoffentlich wirken die Beamten und namentlich auch die beteiligten Arbeiterinnen dahin, daß die überarbeit immer mehr eingeschränkt wird. Daß das ganz gut möglich ist, bestätigt wider Willen die folgende Stelle aus dem Gießener Bericht:
" In dem heurigen Sommer kamen die Überarbeitstage besonders den Saisonbetrieben( Dampfwaschanstalten und Mineral
brunnenbetriebe) sehr gut zustatten und wurden meistens voll ausgenutzt, was in früheren Jahren nicht der Fall war. Mehr als 40 Tage brauchten jedoch die genannten Betriebe nicht in Anspruch zu nehmen, weil sie sich infolge der Bedrängnis der letzten Jahre( plößliche Überhäufung mit Arbeit und Arbeitermangel) zur Anschaffung größerer und verbesserter Betriebseinrichtungen aller Art hatten entschließen müssen und dadurch auch größeren Anforderungen gewachsen waren."
Auf die Betriebseinrichtungen kommt es an: wenn die Unternehmer wissen, daß sie unter allen Umständen ohne überarbeit auskommen müssen, so werden sie sich darauf sehr gut einrichten.
Schwierigkeiten bereitet noch immer die Unterscheidung der gewerblichen Arbeiterinnen von den kaufmännischen Angestellten. Der Geschäftsführer einer Fabrik für pharmazeutische Erzeugnisse wurde dabei betroffen, daß er eine Arbeiterin am Sonnabend nach 5 Uhr nachmittags schaffen ließ. Das Mädchen war gegen eine monatliche Vergütung von 75 Mk. beschäftigt. Sie erhielt ihren Lohn jede Woche. Der Steuerbehörde war sie als Vorarbeiterin gemeldet. Sie selbst bezeichnete sich in erster Linie auch als solche. Das Mädchen war früher Arbeiterin und nicht kaufmännisch ausgebildet. Den größten Teil der Arbeitszeit nimmt die Beschäftigung als Vorarbeiterin in Anspruch. Nebenbei mußte die Betreffende bei dem Versand der Waren helfen. Das Schöffengericht nahm an, daß die Hauptbeschäf tigung maßgebend sei, das Mädchen also als gewerbliche Arbeiterin angesehen werden müsse. Es verurteilte daher den Geschäftsführer wegen übertretung der Schutzvorschrift für gewerbliche Arbeiterinnen. Wir halten diese Entscheidung für richtig. Am besten jedoch wäre es, wenn im Gesetz ausdrücklich bestimmt würde: Personen, die als Arbeiter und als kaufmännische Angestellte abwechselnd in einem Betrieb beschäftigt werden, unterstehen sowohl den Schutzvorschriften für Arbeiter als auch denen für kaufmännische Angestellte; gültig ist stets die am weitesten gehende Schutzbestimmung.
Zum Schuße der Gesundheit müssen die Beamten noch manche Anordnung treffen. So berichtet der Beamte des Gießener Bezirkes: Unter der außergewöhnlichen Hize und deren langem Anhalten im vorigen Sommer hatten in vielen geschlossenen Werkstätten die Arbeiter zu leiden. Besonders in den Dampfwaschanstalten an den Mangeln und beim Bügeln sette die Hize in Verbindung mit der geringen Luftbewegung den Arbeiterinnen sehr zu. In einer Anstalt find deshalb die Bügelöfen beseitigt und dafür die elektrisch heizbaren Bügeleisen eingeführt worden. In dem Betrieb hatten die Arbeiterinnen schon seit dessen Bestehen trotz der großen Höhe und Geräumigkeit des Arbeitssaals über die Hize und den geringen Luftzug geklagt. Diesen übelstand beseitigte ein elektrisch betriebener Ventilator in einent Schacht. In einem Betrieb, der an einer belebten staubigen Etraße liegt, brachte eine ähnliche Einrichtung zwar die