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Die Gleichheit

Männern und Frauen vereint- geschlagen worden. Es zeigte sich, daß die Frauen im allgemeinen ebenso wie die Männer nach ihrer sozialen Klassenlage abgestimmt haben.

Vom Kampf um das Frauenwahlrecht in England. Im englischen Unterhaus wurde am 6. Mai die Bill Dickinson mit 266 gegen 219 Stimmen abgelehnt. Der Gesetzesvorschlag des radi­talen Liberalen Didinson sah zwar kein allgemeines Frauenwahl­recht vor, er verlangte aber immerhin das Stimmrecht für 5 bis 6 Millionen Frauen über 25 Jahren, die einen eigenen Haushalt haben oder zusammen mit ihrem wahlberechtigten Manne den Vorstand der Familie bilden. Die Annahme dieses Gesetzesvor­schlags hätte nur ein platonisches Bekenntnis des Unterhauses zum politischen Wahlrecht der Frauen bedeutet, da es sich ja um feine Regierungvorlage handelte. Seine Ablehnung durch das Unterhaus, das sich schon mit überwältigender Mehrheit zugunsten des Frauenwahlrechtes ausgesprochen hatte, ist bezeichnend für die Wirkung, die der Kampf der Suffragetten auf die bürgerliche öffentliche Meinung ausübt.

Die Frau in öffentlichen Aemtern.

Siebzehn Schulpflegerinnen in Zürich . Das Volk des Kantons Zürich hat bekanntlich im letzten Jahre eine Gesezesbestimmung angenommen, die den Frauen die Wählbarkeit für die Schul­behörden einräumt. Am 4. Mai war den Bürgern der Stadt Zürich zum erstenmal die Gelegenheit geboten, weibliche Schul­pfleger zu wählen. Es fanden die Wahlen für die Zentral= schulpflege und für die verschiedenen Kreisschul= pflegen der Stadt statt. Das Ergebnis der Abstimmung war die Wahl von sechzehn Frauen in die Kreisschulpflegen, denen zusammen 127 Mitglieder angehören. Unter den Gewählten find elf Genossinnen. Außerdem wurde in die Zentralschul­pflege, die 10 Mitglieder zählt, eine Frau gewählt, Genossin Rechtsanwalt Dr. Brüstlein.

Die Zahl der vollbeschäftigten Lehrerinnen an den öffent­lichen Volksschulen in Deutschland betrug im Jahre 1911 39268. Ihnen standen 148217 männliche Lehrkräfte gegenüber, mit denen sie zusammen an 61557 Volksschulen 10309949 Schüler und Schüle­rinnen unterrichten. Die Zahl der vollbeschäftigten Volksschullehre­rinnen hat seit der letzten Erhebung im Jahre 1906 um fast ein Viertel zugenommen.

Für die Anstellung von Frauen als Fabrikinspektorinnen sprach sich die russische Duma auf einen Antrag der Sozialdemo­traten und Kadetten aus. Praktische Bedeutung wird diese Stellung­nahme der Duma wohl zunächst nicht besitzen, denn sie erfolgte gegen den Widerspruch der Regierung, und um Wünsche der Volksver­tretung" fümmert sich die Regierung des Zaren herzlich wenig.

Verschiedenes.

Bürgerliche Wohlanständigkeit und Steuerbetrug . Die Sitt­lichkeit" der Bürgerlichen braucht an dieser Stelle nicht besonders beleuchtet zu werden. Das Geschäft besorgt die bürgerliche Sen­sationspresse schon selbst. Sie pflegt bekanntlich recht ausgiebig über die Skandalprozesse zu berichten, in denen Angehörige der besitzenden Klassen ein Debüt geben. Sie verleugnet ihr mitteil­fames Gemüt nicht einmal da, wo es der Ruf mancher hoch= anständigen" Damen dringend gebieten würde, die sich als Gegen­stand ihrer Eheirrung nicht einen simplen Hausknecht oder Kutscher crforen hatten, sondern zur Abwechslung einen braunen Beduinen von Hagenbecks Schaustellung. Die bürgerliche Sittlichkeit ist trotz allem ein billiges Mäntelchen, unter dessen Schuße sich wohlfeile Geschäfte machen lassen. Das haben erst dieser Tage wieder in der Schweiz die bürgerlichen Familienväter" der sittenstrengen und tugendreinen Stadt Zürich erprobt. Die bedrohte Sittlichkeit mußte ihnen als Feldgeschrei dienen, mit dem sie in den Kampf für den Steuerbetrug stürmten. Sie hatten eine Initiative ins Werk gesetzt, in der sie die Aufhebung zweier Paragraphen des neuen zürcherischen Einführungsgesetzes zum Schweizer Zivil­gesetzbuch verlangten. Der§ 123 Absatz 2 und 3 des genannten kantonalen Gesezes gestattete in Zürich eine sogenannte" wilde Che " solchen Ausländern, die nach den gesetzlichen Bestimmungen ihres Heimatlandes auch die Scheidung einer zerrütteten Ehe nicht erreichen konnten. Der andere Paragraph bestimmte, daß beim Ab­leben von Vater oder Mutter von Minderjährigen eine Aufnahme des Vermögens zu erfolgen hatte. Dieser Paragraph sollte der Steuerhinterziehung gut bürgerlicher Leute ein flein wenig ent­gegenwirken. Seine Beseitigung war den sittlichen Familien­vätern" die Hauptsache. Die Verbindung beider Paragraphen gab ihnen Gelegenheit, die Steuerhinterziehung unter der Maske ver­

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letter" Moral zu erkämpfen. Sogar an den Chauvinismus wurde dabei von ihnen appelliert., eine Konkubinatsduldung für Ausländer!" so gellte mit fetten Lettern auf Zehn­tausenden von Flugblättern der entrüstete Ruf der Sittlichkeits­heuchler. In einem Leitartikel des Züricher Tagesanzeiger" be­schwor ein Familienvater" seine Gesinnungsgenossen, zu verhin­dern, daß Zürich ein Zufluchtsort für wilde Ghen von Ausländern wird". Nebenbei wurde für den Steuer­betrug das Mitleid für die armen Waislein" angerufen, denen der Staat Zürich das letzte Stück Brot vom Tische nehme. Der Trick gelang. Die bürgerlichen Steuerbetrüger hatten nicht um­sonst vor Muckertum und Chauvinismus gekahbuckelt. Bei der Abstimmung wurden 53 179 Stimmen für die Beseitigung des be= dingten Konkubinats abgegeben und dagegen nur 25 973. Für die Aufhebung der Vermögensaufnahme beim Ableben eines Eltern­teils von Minderjährigen stimmten 45 374 und dagegen 32 829. Die klassenbewußte Züricher Arbeiterschaft hat in diesem Treffen allein gestanden und geschlossen gegen die Unsittlichkeit bürger­licher Sittlichkeitsheuchelei und bürgerlichen Steuerbetrugs ge­fämpft. Sie hatte von Anfang an klar erkannt, daß sich die Fa­milienväter" nur für ihren bedrohten Geldbeutel ereiferten. Sie wußte auch, daß mit den bemitleideten armen Waislein" die Kinder der Reichen gemeint sind. Den Hinterbliebenen der Pro­leten kann der Staat bei einer Inventarisation nichts rauben, und was er bei den Waisen der Reichen genommen hätte, wäre nur das gewesen, was ihm und der Volksgesamtheit seither durch Steuerbetrug entzogen worden ist.

Soziale Reformen eines sozialdemokratischen Stadtregiments in der Schweiz . La Chaux de Fonds ist ein Uhrmacherstädtlein im Jura und gehört zum Kanton Neuenburg . Es zählt 30 000 Einwohner und wird von einem Stadtrat regiert, der in seiner großen Mehrheit aus Sozialdemokraten besteht. Seitdem diese Mehrheit die städtische Verwaltung in den Händen hat, hat der Gemeinderat schon verschiedene Reformen durch­geführt, die der arbeitenden Bevölkerung zugute kommen. Dieser Tage hat er die Einführung eines antialkoholischen Unterrichtes in den städtischen Schulen beschlossen. Er soll nach englischem Vorbild eingerichtet werden, und zu seinem Leiter wurde Genosse Dr. Tissot bestimmt. Weiterhin faßte der so­zialdemokratische Stadtrat einen Beschluß, nach dem der arbei­tenden Bevölkerung fünstliche Gebisse zu herabgesetztem Preise von der Gemeinde abgegeben werden. Ganz Bedürftige sollen die Gebisse kostenlos erhalten. Eine Anzahl anderer Reformen, die dem Besten der Werktätigen dienen sollen, hat der rote Gemeinderat bereits auf die Tagesordnung gesetzt. Die Bür­ gerlichen wissen ihm für sein Wirken begreiflicherweise wenig Dank. Sie erheben in ihren Blättern ein Wutgebrüll über das Jakobinerregiment" von La Chaux de Fonds und drohen, es bei den nächsten Wahlen in den tiefsten Abgrund zu stürzen. Auch der deutsche Spieß wird ihnen die warme Teil­nahme an ihrem Schmerze nicht versagen, wenn er erfährt, welch ruchlose Missetaten der sozialdemokratische Stadtrat schon auf sein schuldbeladenes Haupt geladen hat. Man höre und schaudere: Der Stadtrat ließ am 1. Mai beim Abmarsch des Arbeitermaizugs die Glocken der Stadt läuten und marschierte selbst offiziell im Zuge mit, dem die Stadtfahne vorangetragen wurde, die zwei Poli­ist en im Feiertagskleid begleiteten. Ferner hat der rote Stadt­rat die Gemeindesubvention gestrichen, die bisher bürgerliche Stadtväter aus den Taschen der Arbeiter dem Kadetten und Pfadfinderkorps ausgeworfen hatten. Der jezige Stadtrat vermochte die Notwendigkeit dieser Art Jugendpflege" nicht ein­zusehen, die ein ähnliches Gebilde darstellt wie der Jungdeutsch­landbund. Halbreife Bourgeoisfrüchtlein werden durch sie mit Chauvinismus gefüttert und im Gebrauch der Mordwaffen ein­geübt, nebenbei werden sie auch weidlich gegen die moderne Ar­beiterbewegung aufgehetzt. Der Opfersinn der Patrioten und Fa­brikanten von La Chaux de Fonds reichte nicht aus, um die dortige Ortsgruppe diefer jugendlichen Schußgarde der Kapita­listen am Leben zu erhalten, die Steuergroschen der Proletarier mußten das besorgen. Nun der sozialdemokratische Stadtrat mit der Streichung dieser alljährlichen Unterstützung von einigen hun­dert Franken bewiesen hat, daß er auch am rechten Flecke zu sparen versteht, erheben dieselben Bürgerlichen ein wütendes Geschrei, die sonst nie genug jammern können über die Kosten der sozialen Re­formen des roten Stadtrats. Man versteht ihren Schmerz. H. W. Verantwortlich für die Redaktion: Frau Klara Bettin( Bundel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bet Stuttgart .

Drud und Verlag von J. H. W. Diez Nachf. G.m.b.g. in Stuttgart .