Nr. 19

23. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen

Mit den Beilagen: Für unsere Mütter und Hausfrauen und Für unsere Kinder

Die Gleichbeit erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Poft vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig. Jabres- Abonnement 2,60 Mart.

Aufreizende Zahlen.

Von Anna Blos  ..

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Inhaltsverzeichnis.

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Stuttgart  11. Juni 1913

Die Tätigkeit der Frau in der Gemeinde. II. Eine Revolte bulgarischer Frauen gegen den Krieg. Die Volksfürsorge. Von g. sch. Vom gesetzlichen Kinderschuß in Preußen. Von Wilhelm Häusgen.- Eine Frauen­demonstration vor dem preußischen Abgeordnetenhaus. Von Rud. Breitscheid. Aus der Bewegung: Von der Agitation. Aus den Organisationen. Von der Tätigkeit der Dresdener   Kinderschußkommission. Politische Rundschau. Von H. B. Gewerkschaftliche Rundschau. -Aus der Textilarbeiterbewegung. Von sk. Die Lohnbewegung in der Nürnberger   Bürsten- und Pinselindustrie. Von Schneppenhorst. Notizenteil: Sozialistische Frauenbewegung im Ausland. Frauen­bewegung. Frauenstimmrecht. Die Frau in öffentlichen Amtern. Sittlichkeitsfrage.- Verschiedenes.

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Aufreizende Zahlen.

,, Wenn Menschen schweigen, werden Steine reden." Das ist der Sinn der furchtbaren Ziffern, die über die Opfer auf dem Schlachtfeld der Arbeit vorliegen. Sie stammen aus under­dächtiger Quelle: von den gewerblichen und landwirtschaft­lichen Berufsgenossenschaften; von den Versicherungsanstal. ten, die den Baugewerbeberufsgenossenschaften, der Tiefbau­und Seeberufsgenossenschaft   angegliedert sind; von Reichs-, Staats-, Provinzial- und Gemeindebehörden. Und das Reichs­versicherungsamt veröffentlicht sie alljährlich. Danach haben ſeit 1886 bis 1911 dieses Jahr eingerechnet- 10 779 997 Proletarier und Proletarierinnen bei ihrer Erwerbsfron cinen Unfall erlitten. Nicht weniger als 190 662 davon wur­den getötet, außerdem 2214 314 so schwer verletzt, daß sie länger als 13 Wochen arbeitsunfähig waren. Unter ihnen befinden sich Zehntausende, die lebenslänglich zu Krüppeln geworden sind, die nie mehr ihren Lebensunterhalt zu ver­dienen vermögen; viele Hunderttausende, die längere Zeit an dem gleichen Schicksal trugen, oder deren Erwerbsfähig feit für immer eine empfindliche Einbuße erlitten hat.

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Buschriften an die Redaktion der Gleichbeit find zu richten an Frau Klara Zetkin  ( 3undel), Wilhelmshöhe, Poft Degerloch bei Stuttgart  . Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furtbach- Straße 12.

stigen Verhältnissen dürftig, kulturarm genug? Tage der Krankheit, der Erwerbsunfähigkeit, das Dahinfiechen und Sterben des wichtigsten Brotverdieners muß sie unerträglich gestalten. Man vergegenwärtige sich, was diese- Berechnung von Kummer, Sorge und Entbehrung erzählt: 1909 empfing im Durchschnitt die Witwe eines getöteten gewerblichen Ar­beiters 191,92 Mt. Rente, die Witwe eines tödlich verunglück­ten landwirtschaftlichen Proletariers gar nur 88,51 Mr.!

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In 26 Jahren infolge von Betriebsunfällen reichlich 10% Millionen Verwundeter, nahe an 2/2 Millionen Schwerver­lekter und 190 662 Getötete! Und das erhöht das Entsetzen, das uns aus diesen Zahlen anstarrt: die Zusammenstellung Jahr für Jahr weist nur für 1908 einen geringen Rückgang der gemeldeten Betriebsunfälle aus, die 1911 mit 716 884 die höchfte bis dahin registrierte Zahl erreicht haben. Auch die Zahl der Getöteten übertrifft in diesem Jahre mit 9443 die­jenige ihrer Schicksalsgenossen von 1909 und 1910. Und wenn die Zahl der Schwerverletzten zu sinken scheint sie ist von ihrem Höhepunkt 144 703 im Jahre 1907 auf 132 114 im Jahre 1911 gesunken, so darf man eine Tatsache nicht vergessen. Das raffiniert ausgebildete System der Renten­quetscherei" sorgt dafür, daß ungezählte Krüppel um die Entschädigung geprellt werden, auf die sie von Gottes und Rechts wegen einen Anspruch hätten. Obendrein geben die vorliegenden Zahlen nicht einmal ein richtiges Gesamtbild von der Riesenhaftigkeit des Blutopfers, das das Proletariat dem ausbeutenden Reichtum jahraus jahrein bringt. Die Unfälle sind nicht mitgerechnet, bei denen fälschlich ein Zu­sammenhang mit der Berufsarbeit verneint wurde. Die See­leute und die Arbeiter beim Tiefbau unterstehen erst seit 1887 der Unfallversicherung, die landwirtschaftlichen Betriebe seit 1888, viele andere Arten gewerblicher Unternehmungen sind erst 1900 in sie einbezogen worden. Nicht mitgerechnet find die zahllosen Opfer der Berufskrankheiten, die ange­sehene Gelehrte, wie zum Beispiel Professor Levin, als eine Häufung fortgesetter gewerblicher Unfälle erklären. So fehlen in der Armee der Schwerverwundeten die Phosphor­arbeiter und-arbeiterinnen mit ihren zerfressenen Kiefern und faulenden Knochen. Von den Hunderttausenden nicht zu reden, die das Kapital in den Höhlen der Heimarbeit verderben und sterben läßt, die die Tuberkulose dahinrafft, die Klassenkrankheit des Proletariats. Die Zahlen künden, daß sich auf dem Schlachtfeld der Arbeit die Berge der Er­schlagenen immer höher türmen, daß die Menge der Krüppel immer gewaltiger anschwillt. Und das trop des Arbeiter­schußes im weitesten Sinne, den die Sozialdemokratie der Regierung und den bürgerlichen Parteien, den die Ge­werkschaften dem Unternehmertum abgerungen haben; troz aller demütig und tränenreich gestammelter Beschwörungen, durch die bürgerliche Arbeiterfreunde die Kapitalisten zur Schonung des Menschentums ihrer Lohnsklaven zu bewegen suchen. Von welch phantastischer Größe würde das proleta­rische Blutopfer ohne die Selbsthilfe der Ausgebeuteten sein, ohne ihren politischen und gewerkschaftlichen Klassenkampf!

Das Schlachtfeld der Arbeit wird in steigendem Maße auch von Frauenblut und Frauentränen getränkt. Immer mehr Arbeiterinnen werden von Berufsunfällen ereilt, lassen ihr Leben oder gesunde Glieder in der kapitalistischen   Profit­mühle. Wie könnte es anders sein, wenn in Gewerbe und Landwirtschaft die Heere der Proletarierinnen ständig und rasch anschwellen, über die der ausbeutende Reichtum seine unbarmherzige Fuchtel schwingt? Aber im werktätigen Volke steigt auch die Zahl der Frauen, die als Angehörige von verunglückten Arbeitern alle Schmerzen und Nöte tragen müssen, die die Unfälle ihrer Teuren im Gefolge haben. 1909 hinterließen zum Beispiel die 9363 getöteten Arbeiter 6372 Witwen, 13 288 Kinder und 307 entschädigungspflichtige Ver­wandte in aufsteigender Linie. In dem genannten Jahre wurden von den gewerblichen und landwirtschaftlichen Be­rufsgenossenschaften 75 075 Proletarierinnen verzeichnet, die seit dem Bestehen der Versicherung ein Betriebsunfall des Gatten zur Witwe gemacht hatte. Bilder grausigsten Elends steigen aus dem trockenen Zahlenwerk empor. Ist die Lebens­haltung der Habenichtse nicht auch unter sogenannten gün­Obligator. Nebenorgan zum Textilarbeiter" für Frauen, die wie ihre Männer Mitglieder des Deutschen Textilarbeitersu. Arbeit.cinnen- Verb. sind.

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