Nr. 19

Die Gleichheit

Bezirk Berlin ein Knabe von 6/2 Uhr morgens bis 8 Uhr abends tätig. Kinder von 6 und 7 Jahren müssen, verdienen! Wer etwa angenommen hatte, daß Kinder zarten Alters durch den Ausschluß von der Fabrikarbeit nun gegen aus­beutende Erwerbsarbeit geschützt seien, dem bringen die Fabrikinspektorenberichte eine herbe Enttäuschung. Das Elend der Kinderausbeutung ist geblieben, ganz besonders in der Heimindustrie, wo die Schutlosigkeit der eigenen Kinder der Ausnutzung fremder Kleiner Tür und Tor öffnet. Im Bezirk Minden waren 1589 Schulkinder in der Bigarrenindustrie mit Heimarbeit beschäftigt. Ver­botene Kinderarbeit wurde in großem Umfang in Liegnitz festgestellt. Es handelte sich um das Bemalen von Bleisoldaten für eine Metallwarenfabrik. Im Regie. rungsbezirk Breslau wurden 1347 fremde" und 3177 ,, eigene" Kinder gewerblich beschäftigt; nicht weniger als 445 von 604 der ersteren waren in der Stadt Breslau gesetz­widrig tätig. Für den Bezirk Schleswig ist verzeichnet, daß von 6824 ermittelten erwerbstätigen Kindern 2323 ent­gegen den Vorschriften des Gesetzes verwendet wurden. Im Regierungsbezirk Aachen ermittelte man 4726 gewerblich tätige Kinder, davon 3150 in der Hausindustrie. 239 Kinder waren erst sechs Jahre alt, 387 fieben, 416 acht und 486 neun Jahre. Vor dem Vormittagsunterricht mußten 177 Kinder fronen, in der Mittagspause 643, früher als eine Stunde nach dem Nachmittagsunterricht 767 und abends nach 8 Uhr 222. In Danzig wurden 652 gewerb­lich tätige Kinder ermittelt, im Bezirk Potsdam 2059 fremde" und 578 eigene", wobei festgestellt wurde, daß mehr als die Hälfte der kleinen Erwerbenden unter Ver­stößen gegen das Gesetz dem Verdienst nachgingen.

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Was sagen uns die Berichte über die Durchführung des Kinderschutzgesetzes selbst? Hören wir darüber zunächst die Veröffentlichung für 1910. Ziemlich bitter urteilten manche Gewerbeaufsichtsbeamten darüber, daß Verstöße gegen das Kinderschutzgesetz, die zahlreich vorkommen, oft gar nicht oder nur sehr gering bestraft werden. Bei Vergehen gegen das tote bürgerliche Sacheigentum hagelt es drakonische Strafen, während die Verfehlungen gegen die Arbeiterschutz­gejeze gewöhnlich mit einer Geldstrafe von ein paar lum­pigen Mark gesühnt" werden. Das gilt auch von den über­tretungen der Vorschriften zum Schuße der Kinder. Und doch handelt es sich bei alle diesem um lebendige Menschen und bei den Kindern obendrein um junge, pflege- und er­ziehungsbedürftige Menschen. Solange Geldstrafen von 3 bis 5 Mr. die Regel bilden," heißt es im Bericht für Berlin , ist nicht zu erwarten, daß sich die Beteiligten ihrer Verant­wortung und der Schwere der Verstöße bewußt werden." Einige Aufsichtsbeamte betonen auch, daß es ein schwerer Fehler war, das Kinderschutzgesetz nicht auch auf die Land­wirtschaft auszudehnen. Nach dem Bericht aus dem Bezirk Magdeburg wird von den Lehrern auf dem Lande häufig über die übermäßige Heranziehung der Schulkinder an landwirtschaftlichen Arbeiten geklagt: Die Behörden stehen jedoch dieser die körperliche und geistige Entwicklung der Kinder gefährdenden Tatsache mangels einer gesetzlichen Handhabe machtlos gegenüber." Auch in anderer Beziehung wenden sich die Berichte gegen die enge Begrenzung des Kinderschutzgesetzes. So lesen wir aus dem Bezirk Min­ den , daß ein Schulkind in einer Bahnhofwirtschaft ,, an den Wochentagen von 1 bis 5 Uhr nachmittags und Sonntags von 12 Uhr mittags bis 9 Uhr abends mit dem Bedienen der Gäste beschäftigt wurde. Auf Grund der ge­setzlichen Bestimmungen war ein Einschreiten in diesem Falle nicht möglich, da die innerhalb der Bahnsteigsperre liegende Wirtschaft als ein Teil des nicht den Bestim­mungen der Gewerbeordnung unterliegenden Eisenbahn­unternehmens anzusehen war und somit auch das Kinder­schutzgesetz keine Anwendung finden konnte."

Als Ursache der Kinderarbeit und der übertretungen der gesetzlichen Vorschriften wird immer wieder die Not der

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Eltern hervorgehoben. Im Bericht für Berlin wird er­wähnt, daß es vielfach nichts als menschliches Mitleid mit dem furchtbaren Elend der Eltern sei, was die Beamten und auch die Gerichte veranlasse, bei übertretungen der Ge­segesbestimmungen eine ungewöhnliche Milde walten zu lassen. Aus Danzig meldet der Bericht, daß Schulaufsichts­beamte eine nachsichtige Handhabung des Gesetzes befür­worten, mit der Begründung, daß manche Witwe durch die Not gezwungen werde, ihre Kinder zur Mitarbeit heranzu­ziehen, um ihr Leben zu fristen". Daß dies kein Weg zur Eindämmung des Elends von Kindern und Eltern ist, liegt auf der Hand. Es ist kennzeichnend, daß die einzig richtige Folgerung der Tatsachen nicht gezogen wird, nämlich die Forderung, wenigstens für die Milderung der Not der Eltern zu sorgen. Manche Aufsichtsbeamte weisen zu diesem Zweck auf die Wohlfahrtsvereine" hin, damit womöglich durch Unterstützung armer Eltern die Kinderbeschäftigung einge­schränkt wird". Der Bericht für den Bezirk Röslin er­wähnt, daß manche Familien mangels eines rüstigen Er­nährers auf das von den Kindern Verdiente nicht verzichten" fönnen. Im Bezirk Rassel stießen die Aufsichtsbeamten in den Fällen, wo sie ,, nach den Ursachen geforscht haben, die die Eltern veranlaßten, ihre Kinder zur Beschäftigung hin­auszuschicken, auf die betrübende Tatsache, daß die Kinder helfen mußten, die kümmerlichen Einnahmen der Eltern zu vermehren".

Bei der deutlichen Sprache, die solche Feststellungen reden, ist es auffallend und doch erklärlich, daß die Gewerbeauf­sichtsbeamten alle möglichen Vorschläge zur Durchführung des Gesetzes machten, die wichtigste Voraussetzung dafür aber völlig unberücksichtigt ließen: nämlich die Hebung der proletarischen Klassenlage und die Besserung der Lebensbe­dingungen für die unbemittelten Volksschichten überhaupt. Aufklärung der in Frage kommenden Personen, mancherlei ,, Merkblätter", die Mitwirkung der Presse, der Lehrer usw. sollen nach der Meinung der Fabrikinspektoren allein schon Besserung bringen. In diesem Zusammenhang wird auch die vom Kartell der freien Gewerkschaften in Stettin ein­gesetzte Kinderschußkommission genannt. Solche Kommissionen bestehen bekanntlich in vielen anderen Orten und suchen unter hervorragender Mitwirkung der Genossin­nen der gesetzwidrigen Verwendung von Kindern bei Er­werbsarbeit zu steuern, das Kinderelend im allgemeinen zu lindern. Die Aufsichtsbeamten anderer Bezirke hätten des Wirkens dieser Kommissionen gedenken müssen. Notwendig wäre auch gewesen, daß die Berichte auf den Einfluß hinge­wiesen hätten, den unsere bewährte" Wirtschaftspolitik mit ihrer Verteuerung des Lebensunterhalts auf das Anwachsen der Kinderarbeit ausübt. In der Zeit der Zoll- und Steuer­räubereien ist die Luft der Eindämmung der Kinderarbeit nicht günstig. Wohl unbewußt, aber drastisch gab dem eine Webersfrau in Oberschlesien Ausdruck, für das eine ,, unverkennbare Notlage" anerkannt wurde, die nur zu oft zur mehr oder minder ausgiebigen Beschäftigung der eigenen Kinder treibe. In einer Familie traf der Beamte etwa acht Kinder an, Zwillinge standen im Bettchen und sahen dem klappernden Webstuhl zu. Das Ganze machte trotz der ärmlichkeit einen sauberen Eindruck. Auf mein Vorhalten, daß eine Beschäftigung von Kindern vor dem Schulunter­richt doch ein Unrecht gegen die Kinder und gesetzlich un­zulässig wäre, antwortete die Mutter, daß es noch un­rechter wäre, die Kinder hungrig und un­sauber zur Schule zu schicken."..., Gegenüber solchem Elend, das nicht vereinzelt in der Webergegend da­steht, fühlt sich der Beamte machtlos."

Ziehen wir nun die Berichte der Fabrikinspektoren für das Jahr 1911 zu Rate. Verzeichnen sie einen Fortschritt? Ach nein! Im wesentlichen ist alles beim alten geblieben. Wohl können die Fabrikinspektoren auf Grund der erwei­terten Schullisten den Umfang der Kinderarbeit genauer feststellen, aber damit allein ist so gut wie gar nichts getan.