Nr. 20

Die Gleichheit

Das ist das große Ziel, dem die Wahlbeteiligung unserer Genossen dient. Sie hat Hunderttausende und Hundert tausende zusammenzuscharen, in denen der Wille erwacht, zu gegebener Zeit die entschlossene Tat opferwillig dem zornigen Protestruf folgen zu lassen: Nieder mit der Dreiklassen­schmach!"

Der 3. Juni, an dem die Wahlmänner die Abgeordneten zur preußischen Dreiklassenduma kürten, konnte im wesent­lichen nichts Neues mehr bringen. In der weit überwiegen den Zahl der Wahlkreise stand das Ergebnis ja schon nach den Wahlmännerwahlen vom 16. Mai fest. Und selbst bei den Stichwahlen konnte nur für die wenigsten ein Zweifel über den Ausgang bestehen. Es war dies bei jenen Wahl­freisen der Fall, in denen der Fortschritt oder die So­zialdemokratie den Ausschlag zwischen rechts und links zu geben hatten. Überraschungen sind dabei nicht herausge­fommen. Die Sozialdemokratie hat den Fortschritt in mehre­ren Wahlkreisen durch ihre Stimmren herausgepauft. Der Fortschritt hat sich seinerseits zur Gegenleistung in einem Falle aufgeschwungen, wo er durch bloße Stimmenthaltung zugunsten der Sozialdemokratie entscheiden konnte. Wo es ihm aber möglich gewesen wäre, die Nechte zu schwächen, in­dem er positiv für die Sozialdemokratie eintrat, da hat er kläglich versagt. Nur politische Kinder und Träumer konnten es anders erwarten.

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Der Wahlkreis, in dem die Fortschrittler durch Stimm­enthaltung die Entscheidung zugunsten der Sozialdemokratie gaben, war der Berliner Vorortsbezirk Nieder- und Oberbarnim. Er hatte drei Mandate zu vergeben, die nun unseren Genossen Gutsbesitzer Hofer, Parteikassierer Braun und Schriftsteller Haenisch zugefallen sind. Die sozialdemokratische Fraktion wird fünftig aus zehn Mann bestehen, denn aus eigener Straft hat die Sozialdemokratie Mandate erobert beziehungsweise behauptet: fünf in Ber. Iin, eins in Neukölln- Schöneberg und eins in Linden. Gegen den vorigen Landtag ist die Fraktion also unt vier Köpfe verstärkt worden. In drei Berliner Kreisen dem achten, zehnten und zwölften ist unsere ist unsere Partei dem Fortschritt sehr nahe gekommen, den zwölften mußte er in der Stichwahl verteidigen. Die Volkspartei hat die 3 Mandate diesmal noch mit knapper Not gerettet, sie sind indes aller Voraussicht nach zukünftiger sozialdemokratischer Besitzstand. In sämtlichen Stichwahlen, die die Sozialdemo­fratie auszufechten hatte mit Ausnahme der im Wahl­freis Ober- und Niederbarnim , unterlagen unsere Kan. didaten. Sie hatten die geschlossene Koalition der bürger­lichen Parteien gegen sich. In Elmshorn - Pinneberg hätte die Fortschrittliche Volkspartei den Freikonservativen das Mandat entreißen können, wenn sie die Losung gegeben hätte: Für die Sozialdemokratie. Aber sie enthielt sich lieber der Stimme, ehe sie der Sozialdemokratie den Sieg gegönnt hätte. Trotzdem hat die fortschrittliche Presse die Stirne, die Sozialdemokratie für den Ausgang verantwortlich zu machen, weil sie sich erlaubt hat, den Fortschritt zu über­flügeln und aus der Stichwahl zu drängen. Wenn die sozial­demokratischen Wahlmänner die Liebenswürdigkeit ge­habt hätten, gleich im ersten Wahlgang für die schwächere Bolkspartei einzutreten, so hätte der linksliberale Kandidat den Konservativen geschlagen. Der Fortschritt hätte dann nicht durch Stimmenthaltung das Mandat dem Junker zu­schanzen können. Dieser Fall ist ebenso lehrreich, wie es die Betrachtungen der fortschrittlichen Bresse darüber sind. Das Ganze ist eine vortreffliche Antwort auf die Frage, ob mit dem Fortschritt ein erfolgreicher Sturm auf das Dreiklassen­haus unternommen werden kann. Nicht einmal unter dem öffentlichen Wahlunrecht bringt es die bürgerliche Demo­kratie fertig, an der Seite der Sozialdemokratie zu fechten. Diese hat den freisinnigen Helden die Hilfe im Barnimer Kreis durch ihre Stimmen mehr als doppelt vergolten. Ihrem Eintreten verdankt der Fortschritt zwei Mandate in Breslau , eines in Guben , eines in Liegnitz , eines

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in Flensburg und zwei in Brandenburg . Der Fort­schritt hat also ein gutes Geschäft gemacht, und nur die Aus­sicht darauf hat ihn dazu bestimmt, durch passive Wahlhilfe dazu beizutragen, daß drei Sozialdemokraten mehr in den Landtag gekommen sind. Dank der aktiven Hilfe der Sozial­demokratie hat er die Verluste wett machen können, die er trotz seines Bündnisses mit den Nationalliberalen erlitten hat, und außerdem trug er noch einen kleinen Gewinn von drei Mandaten heim, so daß seine Fraktion auf 40 Röpfe wuchs. Die Nationalliberalen haben acht Mandate gewon­nen, meist im rheinisch- westfälischen Industriegebiet. Hier hatte die Sozialdemokratie leider einen Rückgang ihrer Wahl­männerzahl zu verzeichnen, während das Zentrum Mandate verlor. Rechnet man die Eroberungen der Sozialdemokratie, des Fortschritts und der Nationalliberalen zusammen, so er­hält man 15 Mandate, die der Rechten abgenommen wurden. Es ist das die einzige bemerkenswerte Verschiebung, die die Wahlen gebracht haben. Aber die konservative Herrschaft wird dadurch nicht in Frage gestellt. Das Dreiklassenhaus zählt immer noch 201 konservative und freikonservative Vertreter, und die können allezeit eine reaktionäre Mehrheit bilden, je nach Bedarf mit dem Zentrum, das 103 Mandate besitzt, oder aber mit den Nationalliberalen, die über 73 Mandate ber­fügen. Die Nationalliberalen gehören nämlich weit mehr zur Rechten als zur Linken, zumal jetzt, da ihr rechter, altnational­liberaler Flügel verstärkt wurde. Dieser ist selbst mit der Lupe nicht von den freikonservativen Scharfmachern zu unterschei­den. Die im Ruhrrevier neu gewählten Nationalliberalen sind nämlich durch die Bank die Vertreter der Organisationen der scharfmacherischen Schwerindustriellen, der erbittertſten Feinde des Koalitionsrechts und des gleichen, ja selbst schon des geheimen Wahlrechts. Die Gewinne der Nationallibe ralen bedeuten daher nicht einmal eine Verstärkung der Feinde des Dreiklassensystems.

Das Wachstum der sozialdemokratischen Stimmen zwingt die Blicke auf die Macht, die außerhalb des Parlaments sich zur Eroberung des Wahlrechts zu sammeln beginnt. Je we niger von dem preußischen Abgeordnetenhaus, je weniger von den bürgerlichen Parteien zu erwarten ist, um so unwider­stehlicher muß die Einsicht und der Wille des Proletariats wachsen, aus eigener Kraft zu siegen. Die Losung der Stunde ist: Rüsten, bereit machen! Thr zu gehorchen ist die Pflicht jedes Genossen und jeder Genoffin. Der Wahlrechtskampf ruft. Er muß zeigen, daß an dem deutschen Proletariat die Lehren der Massenstreits in Belgien , Schweden und nament­lich in Rußland nicht spurlos vorübergegangen sind. Auch das Deutsch reden" der Massen muß die Ehren einer ge­schichtlichen Bedeutung erlangen. H. B.

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Die Tariferneuerung im Baugewerbe.

In der letzten Maiwoche ist in Berlin zwischen dem Ar­beitgeberbund für das Baugewerbe und den baugewerblichen Arbeiterorganisationen ein Vertrag abgeschlossen worden, der für nahezu 400 000 Arbeiter die friedliche Erneuerung der Tarifverträge bedeutet. Es ist nämlich von diesen Organisa­tionen der sogenannte Hauptvertrag unterzeichnet worden, der alle örtlichen Tarifverträge zu einem einheitlichen Gan­zen zusammenfaßt. Lange hatte es den Anschein, als ob diese friedliche Tariferneuerung nicht möglich wäre, als ob es auch in diesem Jahre wieder zu einem gewaltigen Kampf im Bau­gewerbe kommen sollte. Wenn dieser Kampf schließlich doch noch vermieden worden ist, so lag das nicht an der Friedfertig­feit des Arbeitgeberbundes, sondern daran, daß dieser die Macht der Arbeiterorganisationen fürchten mußte. 1910 hatte er die große Aussperrung gewagt, um die Organisationen der Arbeiter niederzuringen und ihnen die Lohn- und Ar­beitsbedingungen zu diktieren. Durch das opferfreudige Ver­halten der deutschen Bauarbeiterschaft haben die Bauunter­nehmer damals mit ihrer Aussperrung ein klägliches Fiasko erlitten. Sie fonnten ihre Vergewaltigungsabsichten nicht