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Die Gleichheit

das ihn auswendig lernen soll, an dessen Verstand zweifle ich, denn es ist für die Kinder das furchtbarste aller Bücher." Das mechanische Auswendiglernen von Sprüchen und Liedern langweilt Lehrer und Schüler, und ich habe sehr häufig er­lebt, daß gerade das Gegenteil von dem eintritt, was man be­zweckt. Die Religion wird den Kindern so verleidet, daß sie sich beim Verlassen der Schule ganz von ihr abwenden. Es ist ein echter Christ, Leo Tolstoi , der den Ausspruch tat: Der Religionsunterricht ist das größte Verbrechen am Rinde." Auch in den übrigen Unterrichtsfächern fehlt dem Lehrer jede geistige Bewegungsfreiheit. Der Geschichtsunterricht zum Beispiel steht vollständig unter dem Einfluß des Hurra­patriotismus. Die Kinder werden belehrt über die Helden­taten der Könige und Fürsten , über die großen Kriege, die diese führten. Sie erfahren wenig oder nichts über die Männer, die aus dem Volke hervorgegangen sind und für das Volk gelebt und gewirkt haben. Die Reformationszeit mit ihren Dogmenstreitigkeiten wird den Kindern ausführ­lich beschrieben. Aber der so eng damit zusammenhängende Bauernkrieg wird nur als unbotmäßige Auflehnung des Volkes gestreift. Die Namen so vieler Helden des Bauern­frieges, die Florian Geyer , Jäcklin Rohrbach, Hans Flur, Wendel Hipler , die Schwarze Hofmännin und wie sie alle heißen, sind den Zöglingen der Volksschule unbekannt. Und doch sind diese Namen für die Kinder des Volkes unendlich wichtiger als die der Fürsten , die sich im Dreißigjährigen Ariege befehdeten, angeblich für ihren Glauben, im Grunde aber, um Länderraub zu betreiben und Kirchengüter einzu­facken. ,, Wie lebtet ihr in Sage und Geschichte, in Gesang und Rede," sagt Wilhelm Zimmermann in seinem Deutschen Bauernfrieg", hätte eure Sache gesiegt oder gehörte sie wenigstens nur nicht der Bauernhütte an!"

Auch von der Zeit der französischen Revolution muß den Volksschülern auf Kommando ein ganz falscher Begriff bei­gebracht werden. All ihre Schrecknisse hat der Lehrer mit glühenden Farben auszumalen. In einem mir vorliegenden württembergischen Realienbuch heißt es wohl: Die Ursachen der französischen Revolution lagen in den schlimmen poli­tischen und sozialen Zuständen, die in Frankreich herrschten." Dann aber lesen wir weiter: Aber diese Bewegung artete in entseglicher Weise aus, indem sie Schuldige und Unschuldige verschlang. Die neue gefeßgebende Versammlung kündigte allen Völkern Gleichheit und Freiheit, brachte ihnen aber nur Mord und Raub. Die Häupter der Königsfamilie, des Adels und des gemäßigten Bürgertums fielen unter der Guillotine, und ein entmenschter Pöbel richtete sein Schreckensregiment auf." Wie unmenschlich die sogenannten niederen Stände" gequält worden waren, wie König, Adel und Geistlichkeit Treubruch über Treubruch geübt und das Volk aufs äußerste gereizt hatten, wie entmenscht die Herrschenden sich zeigten, davon ist nichts gesagt.

Die Befreiungskriege von 1813 und 1814 werden jetzt auch in den Volksschulen mit großem Klimbim gefeiert. Aber welchen Anteil das Volk daran hatte, mit welcher Begeiste­rung es in den Kampf ging, weil es durch ihn auf eine Be­freiung nicht nur aus dem französischen Joche, sondern vor allem aus seiner Unfreiheit hoffte, davon ist keine Rede. Wer darf den Kindern sagen, daß es das Volk war, das rief, und daß dann endlich auch der König von Preußen fam? Daß nur durch den Gewaltstreich des Sohnes einer Bäuerin, des Generals York von Wartenberg, der Monarch gegen seinen Willen vom Verbündeten Napoleons zu seinem Gegner wurde? Wird man den Kindern erklären, daß keine der Ver­sprechungen gehalten wurden, die man dem Volke vor dem Kriege gegeben hatte; daß seine Unterdrückung nach dem Kriege größer war als vorher, und daß dadurch die Revolu­tion von 1848 vorbereitet ward? Von dieser Revolution heißt es in dem vorerwähnten Realienbuch: Während die März­rebolution vorwiegend in ein wüstes Durcheinander der untersten Volksfreise ausartete, gingen be­sonnene und hochgebildete Männer an die Arbeit, auf gesetz­

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mäßigem Wege das Biel der deutschen Einheit zu erreichen." So stellt man also den Kindern der Volksschule die Beteili­gung ihrer Vorväter an den Rämpfen von 1848 und 1849 bar, bei denen viele ihr Leben lassen mußten, viele aus der Heimat bertrieben wurden. Es heißt weiter: Friedrich Wilhelm IV. hat nicht nur die Verfassung, sondern auch andere wohltätige Einrichtungen ins Leben gerufen." Warum sagt man den Kindern nicht, daß die Verfassung nicht dem König zu danken ist, sondern denen, die mit Gut und Blut für sie eintraten, und die aus dem Volke hervorgingen? Gerade in der Volks­schule sollte der Geschichtsunterricht den Kindern die Ent­wicklung der Gesellschaft von unten herauf darstellen, nicht aber mit dem Blicke von oben, an der Hand zusammenge­fälschter Lebensbilder von Fürsten , die mit dem Volke an sich sehr wenig zu tun hatten, es sei denn, daß es eine Ein­nahmequelle für sie bildete oder ihnen Militär lieferte. Als Vorbilder sollten den Kindern die Männer und Frauen ge­schildert werden, die sich durch Friedenswerke, durch wirt­schaftliche, wissenschaftliche, künstlerische, soziale Verdienste ausgezeichnet haben; das Interesse dürfte nicht auf Kriegs­helden gerichtet sein, die nur dem Morden und Zerstören ihren Ruhm verdanken. Statt den Nationalitätenhaß künstlich zu züchten, sollte die Schule den internationalen Zusammen­halt aller Völker als deal lehren. Das wäre aber nicht im Sinne der herrschenden Klassen und ist darum den Lehr­fräften der Volksschule nicht erlaubt. Die Besoldung so. gering sie ist und die niedrigen Bildungsziele sind der Grund, daß sich so viele von ihnen in das Joch der Abhängig­feit fügen müssen. Dazu kommt die überanstrengung durch die überfüllten Klassen. Da ist es denn kein Wunder, daß Zwang, strenge Disziplin und Drill die Erziehungsmittel der Volksschule sind. Ein angesehener Pädagoge hat sie eine Art Zuchthaus der Gegenwart genannt. Die Volksschule ist eine Vorbereitung für den Kasernenhof. Darum spielt auch die Prügelstrafe eine so große Rolle. Man will feine starken freien Menschen als Lehrer, denn man will nicht, daß aus der Volksschule freie Menschen hervorgehen, sondern Sklaven des Kapitalismus, Kanonenfutter, Knechtsseelen.

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Die Früchte entsprechen der Methode. Fließend und richtig lesen können längst nicht alle Kinder beim Verlassen der Schule, noch weniger aber können sie ihren Gedanken münd­lich oder schriftlich korrekt und formschön Ausdruck geben. Mit dem Rechnen und Schreiben sieht es ähnlich aus. Die Naturwissenschaften werden gröblich vernachlässigt- der An­schauungsunterricht wird in das Schulzimmer verlegt, statt daß man die Kinder hinausführt in Wald und Feld, auf die Straße und in die Werkstätte, Stückwerk bleibt, was die Volksschule gibt, aber wie gesagt: Bum Kartoffelsammeln lernen die Kinder der Volksschule übergenug."

Der Geburtenrückgang in Berlin.*

I.

Genossin Wurm rät den Proletarierfrauen an, statt die Zahl der Geburten zu beschränken, lieber gegen die Unter­drückung und Ausbeutung der Arbeiterfrauen anzufämpfen. Daraus fönnte man leicht den Eindrud gewinnen, daß Ge­nossin Wurm der Meinung sei, als stehe unseren Genossinnen nur die Wahl offen, entweder das eine oder das andere zu tun. In Wirklichkeit aber ist sich Genossin Wurm sicher dar­über klar, daß jene Genossen und Genossinnen, welche die Beschränkung der Kinderzahl empfehlen, nicht nur beide Be­strebungen vereinigt, sondern gerade deshalb die Zahl der Geburten beschränkt sehen möchten, damit die Arbeiterfrauen mehr Zeit und Kraft für den Klassenkampf übrig behalten. Diese Anschauung ist weder dadurch zu widerlegen, daß

* Der Artikel der Genossin Schlesinger wurde vor der Debatte in Berlin über den Gebärstreif" geschrieben. Sie bittet, das zu be achten ,,, weil sie nicht gern als Anhängerin jener Idee gelten möchte, die sie in Wahrheit für durchaus verfehlt hält".