Nr. 2

Die Gleichheit

Bigarrenmachens tritt nicht sinnenfällig zutage. Es ist die Schwächung der gesamten Konstitution und infolge davon die abnehmende Kraft, eindringenden Krankheitsstoffen Widerstand entgegenzusehen. Namentlich gilt das von dem Eindringen der Tuberkelbazillen. Diese sozusagen heimliche Wirkung des Bigarrenmachens läßt sich leider zahlenmäßig nie ganz erfassen. Jedoch in wissenschaftlichen Veröffent­lichungen liegt darüber zweifelfreies Material vor. Die Tatsache ist ebenfalls aus den Gewerbeaufsichtsberichten zu erkennen. Die Arbeiterschaft aber wendet ihr viel zu wenig Aufmerksamkeit zu. Und doch liegt hier eine besondere Ge­fahr für die Mütter im Proletariat und den proletarischen Nachwuchs vor. Wir lassen daher einige entsprechende Fest­stellungen folgen.

Im preußischen Regierungsbezirk Minden ist die Zigarrenfabrikation stark vertreten, besonders in der kleinen Stadt Bünde ist der größte Teil der Bevölkerung damit beschäftigt. Hier fiel es dem Vorstand der Zigarrenarbeiter frankenkasse auf, daß die Erkrankungsfälle und Erkrankungs­tage bei den Arbeiterinnen bedeutend zahlreicher waren als bei den männlichen Zigarrenmachern. Es fielen auf je 100 Mitglieder:

Bereich und Jahr der Angaben

Mitgliebers zahl der Krankenkassen männl. weibl. männl weibl. männl. weibl.

Erkrankungs- Erkrankungs­fälle tage

Für die Krankenkassenmitglieder: Im Deutschen Reich.. 1895 37,3 31,2 625,2591,0 In Preußen. 1895 38,1 32,9 644,4 639,9 In Bünde für die Zigarren-( 1895 23,8 34,4 513,4 760,3 1180 1439 arbeiterortskrankenkasse 1896 23,8 31,9 478,7 760,0 1260 1542 In Minden für die Zigarren-( 1895 23,5 42,4 612,0 850,6 357 158 arbeiterortskrantentasse 1896 21,8 35,2 662,4 975,9 354 145

Aus dieser Tabelle ergibt sich das Folgende: Im allge­meinen ist im Deutschen Reiche und in Preußen bei den männlichen Mitgliedern der Krankenkassen die Zahl der Er­frankungsfälle und Erkrankungstage größer als bei den weiblichen Rassenmitgliedern. Bei den Zigarrenarbeitern ist jedoch das Umgekehrte der Fall. Hier entfallen auf die weib­lichen Kassenmitglieder mehr Krankheitsfälle und mehr Krankheitstage. Nach den Erklärungen der Ärzte handelt es sich hauptsächlich um tuberkulöse Leiden und um Katarrhe der Luftröhre, des Magens und des Darmes. Ein Arzt in Bünde , der in Arbeiterkreisen viel beschäftigt ist, behauptet, daß rund 90 Prozent aller Todesfälle von Zigarrenarbeitern auf Tuberkulose zurückzuführen sind, verursacht durch An­steckung in den Wohnungen oder in den Arbeitsräumen. Die meisten Ansteckungen erfolgen nach ihm dort, wo die Woh­nung und der Arbeitsraum vereint ist; bei den weiblichen Zigarrenarbeitern trägt die ungenügende Ernährung zur Entwicklung der Proletarierkrankheit noch besonders bei. Namentlich in der Zigarrenheimindustrie waren die Arbeits­räume sehr klein und ungesund. In einem Raume von 14 Rubikmeter arbeiteten bei stets geschlossenem Fenster und mangelhafter Reinigung 6 Erwachsene und 6 Kinder, es kam also auf eine Person ein Luftraum von 1, Rubikmeter.* In einem Siechenhaus wurden die Einlieger mit Abrippen von Tabak beschäftigt, nur zwei stark Schwindsüchtige waren von dieser Arbeit befreit.

Der Gewerbeaufsichtsbeamte Dr. Wolf hat im Jahre 1902 die Erkrankungs- und Sterbeziffern der männlichen und weiblichen Zigarrenarbeiter seines Bezirks, des Unter­elsaß, an der Hand der Krankenkassennachweise für die Jahre 1897 bis 1902 festgestellt. Die durchschnittliche Er­frankungsziffer stellte sich für die erwachsenen männlichen Bigarrenarbeiter auf 28 Proz., für die weiblichen auf 35 Prozent. Für die mit Leiden der Atmungsorgane Behafteten

* Die Hygiene verlangt als Mindestmaß schon in gewöhnlichen Aufenthaltsräumen 10 Rubikmeter Luftraum für eine Person.

-

-

23

betrug sie für die jugendlichen männlichen Arbeiter 3,10 Proz., für die jugendlichen weiblichen aber 4,04 Proz., für die erwachsenen männlichen Arbeiter 4,6 Proz. und für die erwachsenen weiblichen Arbeiter 10,46 Proz. Alle diese Ziffern erweisen, daß die Erkrankungsziffern bei dem weiblichen Ge­schlecht wesentlich größer sind als beim männlichen. Der Ge­werbeinspektor Dr. Heucke im Bezirk Wesel ist bei seinen Untersuchungen über die Erkrankungsfälle und-tage der männlichen und weiblichen Zigarrenarbeiter zu dem gleichen Ergebnis gekommen. Von 1247 männlichen Zigarrenarbeitern erfrankten 227 18,2 Proz., von 178 weiblichen jedoch 62 34,8 Proz. Die durchschnittliche Dauer der Erkrankungen betrug bei den Zigarrenarbeitern 22,6 Tage, bei den Bigarrenarbeiterinnen 38,6 Tage und auf den Kopf sämt­licher beschäftigten Arbeiter berechnet bei den männlichen 4,1 Tage und bei den weiblichen 14 Tage. Dr. Heucke hat auch die Kindersterblichkeit bei den Zigarrenarbeiterinnen beobachtet. Er fand, daß auf 100 Einwohner eines Ortes 1,14 Kinder vor Vollendung des ersten Lebensjahres star­ben, von Zigarrenarbeiterkindern aber 3,61, also dreimal so viel. Im Amtsbezirk Bruchsal in Baden betrug die Sterblichkeit an Tuberkulose bei der Gesamtbevölkerung 0,21 Proz., aber bei den Bigarrenarbeitern und-arbeite­rinnen und ihren Angehörigen 0,70 Proz.

Bedeutsame Feststellungen hat Dr. Etienne in Nancy über den Einfluß der Verarbeitung von Tabak auf die Ent­wicklung des Kindes im Mutterleib und die Beschaffenheit der Muttermilch gemacht. 17 in Zigarrenfabriken beschäf­tigte verheiratete Frauen hatten zusammen unter 93 Ge­burten 8 Fehlgeburten. Das ist reichlich das Doppelte der sonst vorkommenden Aborte. Diese Zahlen lassen erkennen, daß schon für die vorgeburtliche Entwicklung des Kindes die Beschäftigung der Mutter bei der Zigarrenfabrikation nach­teilig sein kann. Säuglinge, deren Mütter nach der Geburt nicht wieder in die Tabakmanufaktur gingen und selbst still­ten, gediehen prächtig. Die Mütter von 8 anderen Kindern traten einige Zeit nach ihrer Entbindung wieder in die Fabrik ein und stillten auch dann ihre Kinder weiter. Diese 8 Rinder starben sämtlich in furzer Zeit. Es scheint, daß sie von ihren Müttern mit in die Fabrik genommen und dort von ihnen gestillt wurden, so daß sie abgesehen von an­derem den Schädigungen der Tabakluft ausgesetzt waren. 34 Kinder wurden erst ausschließlich an der Brust genährt, später aber, als die Mütter wieder in die Tabakmanufaktur gingen, den Tag über mit der Flasche; nur früh und abends erhielten sie die Muttermilch. Von diesen Kindern starben 6, eines davon war allerdings nur 6 Tage ausschließlich an der Brust genährt worden. Von 85 Kindern, die lebend von Bigarrenarbeiterinnen geboren wurden, starben in den ersten zwei Jahren 31, das sind 37 Proz., die meisten erlagen Brechdurchfall und Krämpfen. Die Zahl dieser gestorbenen Kleinen war mehr als doppelt so hoch wie die durchschnitt­liche Sterblichkeit der Kinder im ersten und zweiten Lebens­jahr bei der Arbeiterbevölkerung von Nancy .

-

Heinrich Vogel.

Ein Appell an die Arbeitermütter. Das Heer der weiblichen Bureauangestellten wird nach jeder Schulentlassung ganz beträchtlich vermehrt. Die der Schule entwachsenen jungen Mädchen werden durch die wirt­schaftlichen Verhältnisse immer mehr zur frühzeitigen Er­werbsarbeit gezwungen. Von den Berufen, in denen Frauen tätig sind, ist seit einigen Jahren der der Bureauangestellten ein recht begehrter. Auch viele Arbeitermütter veranlassen ihre Töchter, ihn zu ergreifen. Sie sind der Meinung, daß die Beschäftigung als Maschinenschreiberin und Stenographin eine leichtere und weniger aufreibende sei als die der gewerb­lichen Arbeiterinnen, auch halten sie den Beruf der Bureau­angestellten für einen sogenannten besseren, der den Mäd­chen höheren Verdienst bringe.