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Die Gleichheit

Rätselfrage, was wohl das Schweigen des sonst so rede­freudigen Kaisers in Leipzig   bedeute? Die Geschäftsführer der besitzenden Klassen sind aber schon dabei, still nachzu­rechnen, ob das Anlagekapital des Jubiläumsunternehmens sich auch rentiert habe. Selbstverständlich sind zahlreiche ein­zelne auf ihre Kosten gekommen: Fahnentuchfabrikanten, Wirte, ordens- und titelsüchtige Musterpatrioten, die Dirnen nicht zu vergessen, deren Weizen bei großen öffentlichen Festen und Veranstaltungen stets blüht, wie die Geschichte der Kon­zile und der alten Reichstage zur Zeit der römischen Kaiser deutscher Nation bekräftigt. Doch wichtiger als all das ist den besitzenden Klassen ihr politisches Geschäft. Sie überschlagen feinen Profit.

Im Zeichen des Jubiläumsjahres hat die imperialistische Politik triumphierend die stärkste Heeresvermehrung unter Dach und Fach gebracht, mit der noch je das deutsche   Volk ge­züchtigt worden ist. Unermeßlich ist der klingende Gewinn, der in der Folge den kapitalistischen   Cliquen in die Hände gleitet, die wie die ehrenwerte Patriotenfamilie Krupp   an der Ausplünderung des Vaterlandes beteiligt sind. Noch be­deutsamer ist der Vorteil, den sich die besitzenden Klassen da­von versprechen, daß die gepanzerten Fäuste des Imperialis­ mus Wilde   und Halbwilde unter die kapitalistische Fuchtel treiben und den aufsässigen Lohnsflaven in der Heimat an die Kehle fahren. Das Trararabumdie der Jubiläumsfeiern, so hofft man, hat den beschränkten Untertanenverstand großer Bolfskreise gekräftigt und damit für monarchentreue Ge­finnung gewirft. Ein ersehntes Geschäft, das bei der liberalen Bourgeoisie seltsam anmuten könnte. Haben nicht ihre frei heitsschwärmenden Vorfahren nach 1813 gesungen: Fürsten  zum Land hinaus", haben sie nicht noch 1848 die berüchtigten Ferschtenkiller" gestellt?

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Vergessen wir nicht, daß seither die bürgerliche Ordnung die feudale Gesellschaft abgelöst hat, wie die sausende Eisen­bahn die humpelnde Postkutsche. Nun, da der Menschheit große Gegenstände durch das weltgeschichtliche Ringen zwischen Aus­gebeuteten und Ausbeutenden entschieden werden, will das weiland liberale Bürgertum der Fürstentrone so wenig ent­raten wie der Kirchen. Monarchen und Geistliche, religiöse Dogmen und halbabsolutistische Wundergläubigkeit sollen ihre Herrschaft schützen. Durch ihre Befehrung zum realpolitischen Vernunftmonarchismus" hat es sich auch darin mit der Junker­sippe zusammengefunden. Ein Rörnchen echtes Gefühl ist fo­mit der hündischen Byzantinerei beigemischt, die im Jubi läumsjahr wahnwißige Orgien gefeiert hat, und durch ihr Beispiel die respektlosen Massen erziehen" sollte. Nirgends hat es denn auch an den bekannten begeisterten Volkshaufen" gefehlt in anderen Zeiten von den oberen Zehntausend Böbel und Kanaille benannt, die tosend Hurra schrien, wenn Kronenträger, Betreßte oder auch nur Hofkutschen er­schienen.

Schließlich schmeichelten sich die besitzenden Klassen, durch die Erinnerungsfeiern jene vaterländische" Gesinnungs­tüchtigkeit überhaupt gesteigert zu haben, die sich bei den Massen durch Ausbeutenlassen, Steuerzahlen und gottergebe­nes Schweigen befundet. Die mordspatriotischen Posaunen­stöße und Trommelwirbel sollten den Hilfeschrei der Arbeits­losen, die drohenden Rufe der Rechtfordernden, die Sturm­glocken des proletarischen Klassenkampfes übertönen. Und ist nicht auch diese Spekulation glänzend geglückt? In der Tat: das werktätige Volk muß sich der Teilnehmer und Gaffer schämen, die es dem reaktionären Klimbim gestellt hat. Ar­beiterväter und Arbeitermütter müssen errötend die Augen niederschlagen, weil sie stumpfsinnig, feig oder berechnend ihre Kinder dabei als Statisten aufmarschieren ließen, weil sie nicht von ihnen die zusammenfabulierte Darstellung des geschichtlichen Geschehens vor hundert Jahren abwehrten.

So mögen sich die besigenden lassen schmunzelnd die Hände reiben. Das politische Geschäft des Jubiläumsjahres dünkt ihnen so vorteilhaft, daß sie bereits Bins und Binseszinsen ihres angeblichen Milliardenopfers" nachzählen. Und doch

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Nr. 3

wird ihre Schlußrechnung nicht stimmen. Denn sie haben in ihrer Beutegier eine Biffer nicht in Ansatz gebracht, und diese Biffer ist letzten Endes für die ganze Rechnung entscheidend. Es ist die aufklärende, aufreizende Wirkung des Jubiläums­jahres. mit seinen Errungenschaften" für die Ausbeutenden auf die proletarischen Massen, es ist der aus der Erkenntnis geborene Wille zur Tat, zum Kampfe für die Befreiung der Arbeit, die allein die Freiheit und Würde der Nationen ver­bürgt.

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Gerade was die Dauer der kapitalistischen   Ordnung ver­längern und verewigen soll, wird ihre überwindung durch das kämpfende Proletariat beschleunigen: der Imperialismus. Die letzte Wehrvorlage mit ihren unermeßlichen Opfern an Gut und Blut für die Ausgebeuteten muß je länger je mehr deren Lodfeindschaft stärken und reisig bewehren. Der Zauber der Jubiläumsmilliarde aus den Taschen der Reichen- Ta­schen, die die Habenichtse füllen wird bald verflogen sein, und vor der Riesenlast der dauernden Aufwendungen für Rü­stungswahnsinn und Völkermord erscheinen die Ergebnisse der neuen Besitzsteuern als armselige Groschen. Die für den Jubiläumsrummel frisch polierte Legende von der vater­landsbefreienden Nolle der Fürsten   hat den Blick auf die nüch terne geschichtliche Wahrheit gezwungen. Noch nie haben breite Massen wie im Jubiläumsjahr davon gehört, daß die deut­ schen   Monarchen von Gottes Gnaden der Knirps auf Preußens Königsthron darunter wie Bediente vor dem fremden Eroberer aus eigenem Recht" gekrochen sind; daß fie wie Ruppler ihre Söhne und Töchter in die Ehebetten des Geschlechts der Emporkömmlinge" zu liefern begehrten; daß ein Friedrich Wilhelm III. geradezu mit Fußtritten, durch die Furcht vor der Revolution zum Kampfe wider Napoleon  getrieben werden mußte; daß die Rheinbundfürsten ihre Landeskinder" unter den französischen   Fahnen gegen ihre eigenen Volksgenossen zu kämpfen zwangen. Noch nie haben. so viele Hunderttausende wie im Jubiläumsjahr diese Wahr­heit vernommen, daß die deutschen Fürsten   nach Napoleons  Sturz nicht auf die Einheit und Größe des deutschen   Vater­landes bedacht waren, sondern nur auf die Mehrung ihres Be­sites und ihrer Macht; nicht auf die Freiheit der Völker, viel­mehr auf deren Unterwerfung und Knebelung durch die schwärzeste Reaktion.

Wo immer man die Geschichte der Befreiungskämpfe auf­fchlägt, es find Blätter beispielloser Schande für die Mon­archie. Das erkünftelte Hurra, Hurra, Hurra für den Halb­absolutismus, das bei den Jubiläumsfestlichkeiten unter Feuerwerk und Becherklang erscholl, kann sich nicht auf ewig gegen den Nuf der proletarischen Massen behaupten: Hoch die Republik  ! Das Rasseln der Ausbeutenden und Herrschenden mit dem Schwert gegen den äußeren Feind vermag nicht die gewaltige Stimme der geschichtlichen Notwendigkeit zu über­täuben, die die Ausgebeuteten und Beherrschten zum Kampfe um Sein oder Nichtsein mit ihrem inneren-Feind ruft. Sich dafür den Sinn nicht trüben zu lassen, das ist die Pflicht der baterlandslosen Gefellen", denen Deutschlands   Ehre und Freiheit kein Geschäft und kein leerer Wahn ist.

Die Toten reiten schnell, zumal die geschichtlich Toten, die der Kapitalismus   auf seinem Rücken trägt. Vor fünfzig Jahren konnte der Geschichtschreiber Heinrich v. Treischke aus dem Unmut unerfüllter bürgerlicher Ideale heraus noch Worte der Wahrheit über die Befreiungskriege finden. Heute, im Zeitalter des entfesselten Kapitalismus, find die Erinnerungs­feiern des großen Ereignisses ein wüster Herensabath der Ge­schichtsfälschung geworden, die historische Wahrheit hat sich unter die Speere des kämpfenden Proletariats flüchten müssen. Es wird nicht hundert Jahre anstehen, daß die Worte Wirk­lichkeit gewonnen haben, die die Toten von 1818 wie die von 1848 prophetisch den Lebenden zurufen:

Bu viel des Hohns, su viel der Schmach wird täglich euch geboten: Euch muß der Grimm geblieben fein- o, glaubt es uns, den Toten! Er blieb euch! ja, und er erwacht! er wird und muß erwachen! Die halbe Revolution sur ganzen wird er machen!