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Die Gleichheit

die Lage der Dienstboten, Heimarbeiterinnen und Fabritarbeiterinnen. Ein Pfarrer aus Boppot machte den praktischen Vorschlag, den Dienstboten täglich eine Stunde freizugeben und abends 8 Uhr mit ihrer Arbeit Schluß zu machen. Auch dann ist die Arbeitszeit immer noch lang genug, aber vielen Dienstboten würde die Durchführung des Vor­schlags doch von Vorteil sein. Die wenigsten der Damen, die an der Tagung teilgenommen haben, werden bereit sein, die Forderungen des Geistlichen zu verwirklichen, der übrigens ein weißer Rabe ist. Der wertvollste Vortrag war von den Damen am schwächsten be­sucht. Schwester& ug Leipzig sprach vor einem kleinen Häuflein Zuhörer über die Lage der Krantenpflegerinnen. Sie entrollte ein furchtbares Bild von den Lebensbedingungen der Krankenpflegerinnen. Mit Recht, so sagte sie, bezeichne man die Krankenschwestern als die Stieftinder der Sozialpolitik. Es sei noch kein Gesetz zur Regelung ihrer Arbeitszeit erlassen worden. 81 Prozent aller Krankenpflegerinnen hätten eine drei­zehn stündige Arbeitszeit. Dazu tomme noch der Nacht­dienst. Er bringe es mit sich, daß die Krankenschwester bis zehn­mal das Lager verlassen müsse. Neben diesen förperlichen Stra­pazen sei die Schwester auch seelischen Qualen ausgesetzt, wie sie der Anblick großen menschlichen Elends erzeugt. Komme ein Ver­sehen der Schwester vor, so sei die Entrüstung allgemein. Man müsse sich jedoch eigentlich wundern, daß unter den vorliegenden Umständen nicht mehr geschehe. Die Bezahlung der Schwestern sei eine schlechte, und zur Erhaltung ihrer Gesundheit geschehe wenig. Die Tuberkulose erfordere unter ihnen viele Opfer, und Selbstmorde seien teine Seltenheit; fie kämen als Folge des förperlichen und seelischen Zusammen­bruchs. Für den Lebensabend der Schwestern würde nicht genügend gesorgt, Unfall- und Krankenversicherung existierten nicht für sie, und Urlaub zur Erholung gebe es nur in den wenigsten Anstalten. Bezeichnend war es, daß manchen Damen das alles etwas ganz Neues war. Sie hatten keine Ahnung von diesen traurigen Zu ständen. Eine Diskussionsrednerin meinte, sie würde nach dem Ge hörten nie den Mut haben, ihrer Tochter oder einem jungen Mädchen zu raten, Krankenschwester zu werden; warnen müßte man vor dem Beruf. Eine Diakonissin trat der Referentin mit der Bemerkung entgegen, ihr habe es nie an etwas gemangelt. Das war natürlich kein Gegenbeweis. Jeder, der die Zustände im Krankenpflegeberuf auch nur annähernd kennt, weiß, daß Schwester Lug nicht übertrieben hat. Die Verhältnisse sind dort standalöse. Aber es bringt keine Abhilfe, wenn sie auf Damen­tagen wie dem in Zoppot vor einem kleinen Kreis erörtert werden. Es können nur gesetzliche Maßnahmen und eine gute Organt sation der Krantenpflegerinnen Besserung bringen. cm.

Frauenstimmrecht.

Dem Deutschen Verband für Frauenstimmrecht gehörten zur Zeit der Eisenacher Generalversammlung 11 Landes- be­ziehungsweise Provinzialvereine mit zusammen 90 Ortsgruppen und 8821 Mitgliedern an. In der letzten Geschäftsperiode hat sich ihm ein neuer Landesverein angegliedert: der für Gisaß­Lothringen. 19 neue Ortsgruppen wurden gegründet, der Zu­wachs an Mitgliedern betrug über 1600. Diese Entwicklung und numerische Stärke des Verbands" ist dürftig, gemessen an der Mitgliederzahl der Vaterländischen Frauenvereine" und des " Bundes Deutscher Frauenvereine ". Es zeigt sich darin, wie schwach noch der politische Sinn der bürgerlichen Frauenwelt in Deutschland ist, wie tief gewurzelt ihre Gleichgültigkeit gegen die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts. Wie sticht das von dem leidenschaftlichen Gifer ab, mit dem große, rasch wachsende Scharen von proletarischen Frauen sich für das politische Leben interessieren, von der opferbereiten Begeisterung, mit der ste für ihr Bürgerrecht kämpfen! Der Deutsche Verband" hat übrigens trotz aller äußeren und inneren Schwierigkeiten eine rege Tätig­teit entfaltet. Er gab zur Agitation für das Frauenwahlrecht neue Broschüren und Flugblätter heraus, reichte eine große Anzahl von Petitionen bei öffentlichen Körperschaften ein, veranstaltete Kurse, die der politischen Schulung dienten, und veranlaßte seine Mit­glieder, sich an den Arbeiten und Kämpfen bei Reichstags- und Landtagswahlen zu beteiligen.

Nachwehen der Eisenacher Generalversammlung des Ver. bandes für Frauenstimmrecht. Welch tiefgehende Meinungsunter­schiede dem Ringen um den Sabungstext des Deutschen Verbands für Frauenstimmrecht" zugrunde liegen, dafür einige Tatsachen. Die Generalversammlung des Samburg- Altonaer Ver­eins beschloß einstimmig, bei einer Stimmenthaltung, den Aus­

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tritt aus dem Berband", zu dessen größten und bestorganisierten 8weigen er mit seinen 1000 Mitgliedern gehört. Die Ortsgruppe München beschloß auf ihrer Generalversammlung ebenfalls ein­stimmig, an den Bayerischen Landesverein den Antrag zu stellen, aus dem Verband" auszuscheiden. Die Eisenacher Tagung hat Frau Oste veranlaßt, ihr Amt als Vorsitzende der Ortsgruppe Königsberg und des Ostpreußischen Pro­vinzialvereins nieberzulegen. Frau Oste wird als zuverläs­fige Kämpferin für demokratische Grundsäke gerühmt. Auch die Damen des Rechtswärts" siehen Konsequenzen. Eine Anzahl Stimmrechtsvereine haben den Boykott über Frau Cauers Or­gane:" Die Frauenbewegung" und" Zeitschrift für Frauenstimm­recht" verhängt. Sie denken mit dem Berliner Polizeipräsidenten: Die janze Richtung paßt uns nicht." Und das alles, weil es Frauenrechtlerinnen gibt, denen die deutsche Sprache über alles geht, und andere, die berstockt genug sind, kein Entgegenkommen" für diese heiße Liebe zur Form zu haben! So sagt wenigstens Frau Deutsch , und die muß es doch wissen.

Die Einführung des politischen Frauenwahlrechts in Island fordert das Parlament dieser Insel in einem Amendement zur Verfassung, das 1911 zum erstenmal eingebracht und angenommen wurde. Wie es die Verfassung verlangt, erfolgte nun die Ein­bringung des Amendements zum zweitenmal. Die letzte Entschei­dung liegt nun beim König von Dänemark , der auch der Herrscher über Jsland ist. Man hofft auf die Zustimmung des Königs.

Die Frau in öffentlichen Aemtern.

Eine deutsche Genoffin Mitglied eines Schnirats. Genossin Anna Blos , die Gattin des Abgeordneten Wilhelm Blos , ist wiederum auf drei Jahre in den Ortsschulrat zu Stuttgart gewählt wor den. Genoffin Blos hat ihre Ausbildung in der Vittoriaschule und im Lehrerinnenseminar zu Karlsruhe erhalten und die Prüfung als Oberlehrerin bestanden. Sie ist also besonders befähigt, in Schul­angelegenheiten mitzureden. Wie entschieden und Klarblickend sie in ihrem Ehrenamt die Interessen des arbeitenden Bolts vertritt, das lassen die Artikel erkennen, die sie in unserem Blatt veröffentlicht. Genossin Blos ist die erste und einzige deutsche Sozialistin in einem Drtsschulrat. Mögen bald andere Genosfinnen ihr folgen.

Frauen in der norwegischen Rechtspflege. In Tromsö wurde kürzlich ein weiblicher Stadtrichter angestellt, der erste seiner Art in Norwegen . Beim Schwurgericht zu Christiania am­tierte eine Frau als Vorsitzende einer Geschworenen­bant, die auf 10 Mitglieder 7 Frauen zählte.

Sittlichkeitsfrage.

Die Bordellvorsteherin als moralische Persönlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft. Die bürgerliche Moral ächtet die Pro­ftituierte als unstttliches Geschöpf und gibt sie der Polizeiwillfür preis. Andererseits anerkennt sie die Ausbeutung der Prostituierten und die geschäftsmäßige Organisation des käuflichen Geschlechts­berkehrs als eine bürgerlich respektable Erwerbsform. Geld stinkt nicht, auch wenn es im Bordell erworben wird. Das Wesen der bürgerlichen Ordnung kommt darin zum Ausdrud. Ein Klassisches Beispiel dieser Verlogenheit ist das nachstehende Leumundszeugnis, das der achten Pariser Straftammer vorgelegt wurde:

" Französische Republit, Boulogne- sur- Mer , 31. Mai 1913. Der unterzeichnete Spezialpolizeikommissar bezeugt, daß die 82 Jahre alte.... feit ungefähr fünf Jahren Untervorsteherin des öffent­lichen Hauses in der Rue Saint- Pol Nr. 12, Boulogne- sur- Mer , ist. Die M.... hat immer eine ordentliche Lebensführung gehabt und niemals Anlaß zu einer Bemerkung ge. geben, die ungünstig für ihre Moral und ihre Rechtlichkeit wäre. Der Spezialkommissar."

Dieses Beugnis bestätigt, daß nach der Meinung der Behörden die Unfitflichkeit" als Gewerbe die Moral und Respektabilität der Bordellinhaber nicht berührt, die sich durch das Gewerbe bereichern. Ehrenrührig ist das Gewerbe nur für die Unglücklichen, die es ausüben, seine Entwürdigung ihres Menschentums und seine Ge­fahren für Leib und Seele auf sich nehmen. Und so ist es nicht bloß in dem unmoralischen" Frankreich , sondern auch in Preußen, dem Hort der Gottesfurcht und frommen Sitte, wo Bordellwirte in der ersten Wählerklasse wählen und durch ihre gewichtige Stimme vielleicht die Stimmen von ein paar hundert Proletariern aufwiegen.

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Berantwortlich für die Redaktion: Frau Klara Zetkin ( Sundel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bet Stuttgart .

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