Nr. 6

Die Gleichheit

empfängt selbstredend das nach Berlin gelockte Opfer aufs freundlichste. Er erzählt dem Mädchen von den Schönheiten Berlins , das einer jungen Dame viel günstigere Aussichten für das Fortkommen biete als die kleine Stadt. Er vergißt dabei nicht, der unerfahrenen nebenbei zu bemerken, daß er einen Anspruch auf Vermittlungsgebühr habe, die ihm aber nicht von ihr zu erstatten sei, da ihr zukünftiger Arbeitgeber sie bereits bezahlt habe. Dann macht der Vermittler" ihr klar, daß die ihr zugesicherte Stelle eine ganz vorzügliche sei. Ehe sie aber den Bosten antreten fönne, müsse sie sich in einem fleineren Betrieb noch besser ausbilden, dabei werde sie zu­gleich mit den Berliner Verhältnissen vertraut. Das naive Mädchen denkt sich bei diesen Mitteilungen nichts Arges, fast stets erklärt es sein Einverständnis mit der Bedingung. Der ,, Vermittler" läßt nun die Ahnungslose durch eine recht freundliche Dame nach der sogenannten Lehrstelle" bringen.

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Die Lehrstelle" ist meist eine der Animierkneipen, die vom sogenannten besseren Publikum besucht werden und über ganz Berlin verstreut sind. Besonders ist der Berliner Westen mit derartigen Erbauungsstätten" für vornehme Lüstlinge be­glückt. Viele dieser Lofale tragen nach außen hin das Gepräge bon gut bürgerlichen Restaurants, Cafés usw., manche ver­meiden auch das Äußere eines geschäftlichen Betriebs. Sie fönnen auf eine sichere, gute Stammkundschaft rechnen und brauchen sich daher überhaupt nicht besonders bemerkbar zu machen. In dem Lokal findet die Kleinstädterin eine ebenso liebenswürdige Aufnahme wie früher beim Vermittler". Auch begegnet sie hier fast immer anderen jungen Mädchen, die auf demselben Wege wie sie nach Berlin gekommen sind. In manchen dieser Lokale sind sechs oder sieben Mädchen im Alter von siebzehn bis zwanzig Jahren beschäftigt. Das An­lernen besorgt eine alte Kellnerin, eine ganze fesse", wie es in Berlin heißt. Das Opfer wird bald zu Fall gebracht. Es erscheint einer der Lebemänner, die immer junge und frische Ware" haben wollen. Er nimmt in dem großen Gastzimmer Platz und ladet die jungen Mädchen ein, ihm bei einem Glas Wein Gesellschaft zu leisten. Natürlich bleibt es nicht bei dem einen Glas. Der Gast ist immer sehr freigebig, und der Wirt oder die Wirtin hält die Lehrmädchen" im Interesse des Ge­schäftes zum festen" Trinken an. Hat der Alkohol die nötige Stimmung" erzeugt, so empfindet der Gast das Bedürfnis, ,, ungestört" eine Flasche Sekt oder besonders guten Wein zu trinken. Er zieht sich in eines der angrenzenden Zimmer zu­rück. Das junge Mädchen, das seine geile Gier am stärksten reizt, muß ihn auf Geheiß der Wirtin dort bedienen und ihm auch Gesellschaft leisten. Wenn der vornehme" Herr sich ent­fernt, so bleibt in den allermeisten Fällen das Mädchen total betrunken zurück und muß aus dem Zimmer getragen werden. Nur wenige der armen geschändeten Geschöpfe erkennen so­fort den wahren Zweck der Lehrstelle" oder der. Ausbil­dung", wie sich der Agent ausdrückt. Die meisten sind zu ver­trauensselig, sie kennen nicht die Schliche und Ränke jener Schändlichen, die in fast allen Großstädten ihren schuftigen Handel mit Menschenfleisch betreiben, denen kein Verbrechen zu groß erscheint, wenn es ihrem Zweck dient: Geld zu bringen. Um die unglückseligen Opfer ganz im Garn zu haben, wird ihnen im Geschäft gleich Wohnung und Kost ge­währt, und sie dürfen das Haus nicht verlassen. Einige Mäd­chen sind flug und stark genug, aus den Lasterhöhlen zu ent­fliehen, in die sie verschachert wurden. Viele jedoch haben nicht diese Widerstandskraft, nach anfänglicher Verzweiflung und innerem Widerstreben finden sie sich nach und nach mit ihrem Los ab. Ihre Arbeitsbedingungen" sind so gestaltet, daß ihnen das erleichtert wird. Behandlung und Beköstigung sind ausgezeichnet, und eine eigentliche Arbeitsleistung wird von den ,, Damen " nicht verlangt. An Unterhaltung fehlt es nicht, Geschenke reicher Verehrer bieten die Möglichkeit, sich elegant zu kleiden. Die ganze Umgebung scheint sich zu verschwören, den Fall zu besiegeln. Das behagliche Nichtstun gefällt. Aus der Verkauften und Betrogenen wird mit der Zeit eine wirk­lich Gefallene, die Straße hat ihre Galeerensklavin der Lust.

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Wir haben nur einen Weg geschildert, auf dem jene Stel­lenvermittler" ihre Ware" an den Mann bringen. Jedoch führen auch bei ihrem schuftigen Gewerbe viele Wege nach Rom". Stellenvermittler, die Kuppler der Animierkneipen und Bordelle sind, treiben ihr Geschäft in demselben Berlin , wo die Polizei dem Bürger vorschreibt, nur noch im rechten Winkel den Straßendamm zu überschreiten, in demselben Staate, wo die Bildungsstätten für den proletarischen Nach­wuchs, die Arbeiterjugendheime, von Büttelfaust und Ju­ristenweisheit drangsaliert werden. Hier Allmacht der Polizei, der Gerichte, dort Ohnmacht. Allmacht gegen die Bestrebungen, die jungen Proletarier und Proletarierinnen zu aufrechten und charakterfesten Menschen heranzubilden, die eines Tages fähig und bereit sind, für die Freiheit, für die höchsten Menschheitsideale zu leben und zu sterben. Ohnmacht im Kampfe gegen Menschenhändler! Also will es die bürgerliche Ordnung der Gesellschaft. Die Söhne und Töchter der Ar­beitereltern werden Opfer der Allmacht wie der Ohnmacht der amtlich patentierten Hüter dieser Ordnung. Ein Grund mehr, sie in tödlicher Feindschaft zu befämpfen. Das Ver­derben von Leib und Seele, das in der kapitalistischen Gesell­schaft den Töchtern des arbeitenden Volkes droht, muß namentlich jede Proletarierin zum unversöhnlichen Kampfe rufen. R. Hagen.

Genosse Hagen ersucht die Genossinnen und Genossen, ihn bei dem Bestreben zu unterstützen, der geschilderten Art des Mädchenhandels entgegenzuwirken. Sie können das in der Weise tun, daß sie ihm durch die Gleichheit" einwandfreies Material darüber zustellen. Es soll dazu dienen, das schärfste Einschreiten der Behörden gegen die scheußliche Erscheinung zu erzwingen.

Aus der Bewegung.

Von der Agitation. Im Wahlkreis Hanau- Gelnhausen- Orb fanden 18, im Wahlkreis Höchst- Usingen 15 Frauenversammlungen statt, in denen die Unterzeichnete über das Thema sprach: Der Stampf der Frau um Brot und Recht". Die Versammlungen im Wahl­freis Hanau waren trotz des guten Standes der Organisation nicht zum besten besucht. Die hohe Zahl weiblicher Parteimitglieder be= weist, daß das nicht an mangelndem Interesse der Frauen lag. Es erklärt sich aus den Verhältnissen im Kreise. In den kleineren Ort­schaften, die entfernt von der Stadt liegen, sind die Männer den ganzen Tag, ja die ganze Woche auswärts, um zu verdienen. Den Frauen fällt die Arbeit auf dem bißchen Feld zu, das die Leute noch haben. Durch diese Arbeit ist die Proletarierin gebunden und versklavt, wie sie als Fabritarbeiterin versflavt und ausgebeutet ist. Die Versammlungen fielen in eine Zeit, wo es für die Fauen noch im Feld und im Garten zu tun gab. In dieser Zeit konnten auch die Landarbeiterinnen nur schwer abkommen, die bei Gr ẞbauern beschäftigt sind. Unter den Besuchern und Besucherinnen der Ver­sammlungen herrschte ein frischer, kampffreudiger Geist. Der Wunsch wurde laut, es möchten im Winter Leseabende für die Genoffin­nen eingerichtet werden. Die Genofsinnen selbst versprachen, sich eifrig zu rühren. Gut besucht waren die Versammlungen in Langen=" selbold, Rückingen, Niederdorfelden , Spielberg, Wachen­ buchen , Hanau . Die Parteiarbeit während der Wintermonate dürfte in dem Kreise trotz der vielen kleinen ländlichen Orte die besten Erfolge geben. Im Wahlkreis Höchst- Usingen war der Versammlungsbesuch recht gut, weil die Zeit der Feldarbeit so ziem lich vorüber war. Hier sind die Bestrebungen zur Organisierung der Frauen noch jungen Datums. Die Versammlungen waren von bestem Geiste erfüllt. In Unterliedersbach wurden eine Anzahl Frauen der Partei als Mitglieder zugeführt. Seither hat dort bereits eine zweite, sehr gut besuchte Versammlung stattgefunden, die sich mit der Frage beschäftigte: Der Rückgang der Geburten und seine Ur­sachen". Die Versammlungen in Oberhöchstadt , Esch und Stein­ fischbach im Taunus waren zahlreich von Männern und Frauen be­sucht. Das Referat behandelte die Stellung der Frau im wirtschaft­lichen und politischen Leben. Es mahnte die Proletarierinnen, ihre Pflichten im Befreiungskampf der Klasse zu tun. Es fand überall ein­hellige Zustimmung. Auch in dem Taunuskreis haben die Genossen ein­gesehen, daß es eine Lebensfrage für die Arbeiterbewegung ist, die Frauen politisch aufzuklären und zusammenzufassen. Die Aufforde rung der Rednerin verhallte nicht vergeblich, unsere Organisationen

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