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Die Gleichheit

rung die Arbeitslosenversicherung ablehnt. Der Bei­fall aller bürgerlichen Parteien lohnte ihm dafür. Die Besitzenden weigern sich entschieden, den Opfern der kapitalistischen   Wirt­schaftsordnung auch nur halbwegs ausreichende Hilfe zu gewähren. Laßt sie betteln gehn, wenn sie hungrig sind!" Oder steckt sie ins Gefängnis! Damit immer mehr Proletarier dieser Art Staats­unterstüßung" teilhaftig werden, ließen die Konservativen durch den Mund ihres Etatsredners Graf West arp auf Erlaß eines 8uchthausgesezes gegen Streifende drängen. Der Reichskanzler gab dazu eine gewundene Erklärung. Widelt man das Bündel seiner Betrachtungen, Grwägungen, Meinungen auf, so bleibt als Kern eine tröstliche Versicherung für die Scharfmacher übrig. Gewiß, den Reaktionären werden nicht alle Wünsche nach Niederbüttelung der aufsässigen Arbeiterschaft reifen. Aber immer­hin dürfen sie auf die Erfüllung mancher Forderungen rechnen. Die Anzeichen, daß ein Anschlag auf das Koalitions= recht bevorsteht, werden immer bedrohlicher. Vor dem Odium eines Ausnahmegesetzes scheut man zurück, aber man hat den festen Willen, das gemeine Recht als gemeinstes Recht zu handhaben.

In Frankreich   ist das Ministerium Barthou   über eine Steuerfrage gestürzt. An seine Stelle trat das radikale Mini­sterium Doumergue  , das damit begann, seinen Radikalismus sorg­fältig zu verstecken. Sein Programm zeichnet sich aus durch die Ab­wesenheit jeder flaren radikalen Forderung. Vorerst hat das neue Kabinett eine große Mehrheit gefunden, doch zeigten viele Stimm­enthaltungen, daß die Herrlichkeit nicht fest gegründet ist.

Das bulgarische Volk ist durch die Leiden zweier furcht­baren Kriege gewißigt worden. Es hat der Regierung und den Kriegsparteien bei den Kammerwahlen eine empfindliche Niederlage bereitet und rund 50 Sozialisten in die Kammer ge­schickt. Die unzweideutige Kundgebung des Volkswillens kann eine neue Epoche der Balkangeschichte einleiten.

Gewerkschaftliche Rundschau.

H. B.

Wer in den Zeitungen die Verhandlungsberichte vom christ= lich nationalen Arbeiterfongre y las und die tagen­den Herrschaften sonst nicht näher kannte, der mußte sich über das mutige Auftreten dort freuen. Wenn man's so hört, so könnt' es leidlich scheinen." Es fehlte auf dem Kongreß nicht an einer ent­schiedenen Stellungnahme gegen eine Verschlechterung des Koa­litionsrechts und gegen eine Verschärfung der Strafgesetze; sozialpolitische Klagen und Forderungen mancher Art wur­den laut; man stimmte für staatliche Arbeitslosenfürsorge, für Wohnungsreform, für Lebensmittelverbilligung und städtische Lebensmittelversorgung und allerhand andere schöne Dinge mehr. Die Vertreter der katholischen Fachvereine fanden mit ihren offe= nen arbeiterfeindlichen Ausführungen starken Widerspruch. So meit wäre alles ganz gut und schön, wenn man die Überzeugung haben könnte, daß den großen Worten auch kraftvolle Taten folgen würden. Allein diese Überzeugung kann kaum jemand hegen, der die führenden Geister im christlich- nationalen Lager seit Jahren an der Arbeit beobachtet hat. Die Herren haben nur zu oft ihr Doppel­gesicht gezeigt. Auf Kongressen und vor Proletariern, wo sie mit Worten auskommen können, das Gesicht der biederen, aufbegehren­den Arbeiterfreunde. Im Lager des Zentrums und wo es sich um Entscheidungen handelt, den Kopf der Reaktionäre, der Unter­nehmerlataien. Hier für Lebensmittelverbilligung, dort für Lebens­mittelzölle; hier für Weiterführung der Sozialpolitik, dort für deren Einschränkung; hier für Sicherung des Koalitionsrechts, dort für Arbeitswilligenschutz!

Schon die äußere Aufmachung des Kongresses stand in Wider­spruch zu den tönenden Beschlüssen. Allerlei Vertreter der höch= sten Staatsbehörden waren im arbeiterfreundlichen Mäntelchen er­schienen. Wilhelm II.  , der allerhöchste Schüßer der Lauffs und Ihnes, hatte huldvollst geruht, den Kongreßteilnehmern 50 Theater­billette zu spenden. Die Kunst dem Volke wie die Religion! Der Dank für so viel Aufmerksamkeit fam in einem Ergebenheitstele­gramm und dem unvermeidlichen Kaiserhoch zum Ausdruck. Wenn der Kaiser die Beschlüsse und Forderungen des Kongresses ernst nehmen würde, so müßte er auch die Teilnehmer daran in die Strafecke der Reichsfeindlichkeit verweisen, müßte er sie jener Rotte von Menschen zuzählen, die nicht wert sind, den Namen Deutsche   zu tragen". Aber Wilhelm II.   kennt seine Pappenheimer. Wie ungenau und irreführend er auch über das Erwachen der Ar­beitermassen unterrichtet sein mag, das eine ist ihm bekannt: Ar­beitervertreter, denen es ernst mit dem Dienst ihrer Sache ist, die dienern nicht vor Fürstenthronen, die haben festes Rückgrat und steifen Nacken. Die christlich- nationalen Arbeiterorganisationen

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werden von der Regierung richtig eingeschätzt als das, was sie sind: ein Bleigewicht, das die vorwärtsschreitende Arbeiterbewegung hemmt. In der Tat: tragen diese Organisationen nicht Zwietracht und Kampf unter die Klassengenossen, die geeint sein sollten zum Ringen gegen das ausbeutende Unternehmertum und seinen poli­tischen Büttel, den Staat. Schon die nächste Zeit wird zeigen, was bei den Führern dieser Orgarisationen Schein, was Wirklichkeit ist. Diese Herren laufen im Schlepptau der bürgerlichen Parteien und führen ihnen proletarische Wähler zu. Im Reichstag   ist über­genug Gelegenheit, zu erproben, ob die bürgerlichen Parteien für die Kongreßbeschlüsse zuverlässig eintreten. Wer's glaubt, zahlt einen Taler.

Auf dem wirtschaftlichen Kampfplak herrscht gegenwärtig fast töllige Ruhe. Gewiß ist der Monat Dezember fast nie eine Zeit größerer Kämpfe gewesen. Heuer aber ist es der Hinblick auf die furchtbar lastende Krise, der die Kampfeslust lähmt. Nur ver­einzelt sind kleine Bewegungen zu verzeichnen. Der Staat hat bis jezt für die Opfer der Krise nur beschwichtigende Worte gehabt, die Kommunen haben bloß vereinzelt, widerwillig und völlig un­zulänglich Hilfe für die Arbeitslosen geleistet. Die proletarische Selbsthilfe zieht unterdessen auch auf diesem Gebiet sozialer Auf­gaben immer weitere Kreise. In brüderlicher Gesinnung sucht sie die schwärzeste Not der unfreiwillig Feiernden zu lindern. In vielen größeren Städten sind die Partei- und Gewerkschaftsgenossen am Werk, damit ein Freuden- und Hoffnungsschimmer zu Weih­nachten das graue Elend der Arbeitslosen und ihrer Kinder er­helle. Sie vergessen nicht, daß Hunderttausende darben, während die Befizenden recht oft ohne Liebe, nur um der konventionellen Heuchelei zu genügen zu Weihnachten das Geld mit vollen Händen hinauswerfen. Überall werden Weihnachtsbescherungen für die Arbeitslosen und ihre Kinder vorbereitet. Mancher, der sein Scherflein zu den Sammlungen dafür beiträgt, weiß nicht, ob nicht auch er schon zu Weihnachten   in der großen Reservearmee der Unbeschäftigten steht, die der Kapitalismus schafft, und die er braucht, um die Forderungen der arbeitenden Proletarier in Schranken zu halten. In Berlin   konnten Mitte Dezember schon über rund 150 000 Mt. quittiert werden, der Ertrag von Samm­lungen und von Zuwendungen der Gewerkschaften und der Partei. Eine respektable Summe das. Und doch will fie für das große Heer der Arbeitslosen und ihrer Familien nicht viel bedeuten.

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Die Scharfmacher haben mit bodenloser Frechheit darüber ge­höhnt, daß die Leistungen der Gewerkschaften für die Arbeitslosen viel zu niedrig seien. Die Verbände, so faselten sie, sollten doch für die Arbeitslosenunterstüßung mit ihren großen Kassenbeständen, ihren aufgesammelten Millionen herausrücken, wenn ihnen die Not der Brüder ohne Verdienst wirklich so sehr am Herzen liegt. Wir glauben's den Scharfmachern gern, daß ihre Freude groß sein würde, wenn die Gewerkschaften den gut gemeinten" Rat befolg­ten. Es könnte den Herren in ihren Kram passen, daß die Ver­bände sich ihrer Kampfesfonds entäußerten, denn dann wären die Arbeiter zu allem Elend noch schutzlos der kapitalistischen   Profit­gier ausgeliefert. Ist doch die stark gerüstete Gewerkschaft die feste Schutzwehr der Ausgebeuteten wider die Gelüste ihrer Ausbeuter und Beiniger. Gerade in Zeiten der Krise ist es wichtig, daß die Gewerkschaften mit wohlgefüllten Kassen dastehen. Das Unter­nehmertum liegt auf der Lauer, um den schlechten Wirtschaftsgang zu Lohnkürzungen und anderen Verschlechterungen der Arbeits­bedingungen auszunüßen. Die Furcht vor kampfestüchtigen Or­ganisationen muß solche Gelüste im Zaume halten.

Nur die Angehörigen eines Berufs zeigen sich in der Zeit wirt­schaftlichen Niederganges kampfeslustig. Das sind die Ärzte. Ihre organisatorische Vertretung, der Leipziger   ärzteverband stellt nach wie vor hohe Forderungen an die Krankenkassen. Ver­träge, die für einzelne Orte oder ganze Bezirke zwischen Ärzten und Krankenkassen abgeschlossen waren, sind wieder aufgehoben worden, weil sie den Bedingungen des Leipziger Verbandes nicht entsprachen. Das hat ein" Terror" zuwege gebracht, der als schlimmster sozialer Greuel gebrandmarkt wird, wenn es sich um Arbeiter handelt. Mit dem Inkrafttreten der gesetzlichen Bestim= mungen über die Krankenversicherung am 1. Januar 1914 wird es wahrscheinlich zu großen Kämpfen zwischen Krankenkassen und Ärzten kommen. Die Krankenkassen werden vielfach vom Rechte des§370 der Reichsversicherungsordnung Gebrauch machen müssen. Danach können sie bei nichtärztlicher Versorgung der Kranten unter Zustimmung des Oberversicherungsamtes erhöhtes Krankengeld zahlen, von dem dann das erkrankte Mitglied die Kosten der ärztlichen Hilfe selbst bestreiten muß. Wenn die fest­angestellten ärzte nicht genügend zahlreich sind, um alle franken Kassenmitglieder zu behandeln, so werden sie sich in der Haupt­