Nr. 9

Die Gleichheit

die Sache der ausgebeuteten Arbeiter zu sterben. Diese Frau gehört zu jenen ihres Geschlechts, vor denen man unwillfür­lich den Hut ziehen muß.

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Ein Milizoffizier sagte in Calumet zu mir: Wenn Mac Naughton der Generalleiter der Kupferminen, Big -, Big Annie( die große Anna) kaufen könnte, so würde er diesen Streif gewinnen." Annie Clemenc weiß, was Hunger ist, aber alle Millionen an Dividenden, die je aus den Calumet­und Hekla- Kupferminen gewonnen wurden, können sie nicht kaufen. Man muß diese Frau gesehen haben, wie sie, ihre Flagge vor sich haltend, den Soldaten gegenüberstand, Ka­bollerie mit gezogenen Säbeln, Infanterie mit vorgehaltenem Bajonett. Man befahl ihr, zurückzugehen. Sie rührte sich nicht und forderte die Soldaten heraus. Sie wurde mit einem Bajonett über das rechte Handgelenk geschlagen, und der Knippel eines Deputy- Sheriffs( Assistent des gericht­lichen Vollzugsbeamten) traf sie über die rechte Brust und Schulter. Tötet mich!" rief sie aus. Sagt eure Bajonette und Säbel durch diese Flagge und tötet mich, aber ich gehe nicht zurück! Wenn diese Flagge mich nicht schützt, so will ich mit ihr sterben!" Und Annie Clemenc ging nicht zurück, bis die streitenden Arbeiter selbst sie zurückzogen, aus Be­sorgnis, sie könnte getötet werden.... Ich dachte an James Mac Naughton, den Generalleiter der Calumet- und Hekla Minengesellschaft, und an sein Gehalt von 40 000 Dollar pro Jahr, an die 25 000 Dollar, die er alljährlich als zweiter Vizepräsident, und die 20 000 Dollar, die er im Jahre als Direktor bezieht, von den übrigen Einnahmen nicht zu reden. Und ich sagte mir, daß eine Annie Clemenc, eines Berg: manns Weib, für das menschliche Geschlecht und die Zivili­sation Tausende von Mac Naughtons wert ist.

Annie Clemenc befindet sich jetzt in einem kleinen, schmugi­gen Gefängnis. Die amerikanische Flagge würde darüber mehr am Blaze sein als über manchem Gerichtsgebäude. Wo Annie Clemenc ist, da ist die Liebe zur Freiheit und der Mut, für die Freiheit zu kämpfen. Man darf sich nicht wun­dern, wenn man eines Tages lesen wird, daßẞ Annie Clemenc von der Hand gedungener Mörder gefallen ist, die die Minenbesizer aus den New Yorker Verbrechervierteln nach Michigan gerufen haben, um die Bergarbeiter des Kupfer­landes noch mehr zu versklaven. Wenn es so kommen sollte, so ist der Grund dafür, daß Annie Clemenc keinen Schutz unter der amerikanischen Flagge finden konnte, die sie trug." Warum das? werden vielleicht manche deutschen Leserinnen fragen. Sind die Vereinigten Staaten nicht ein Freistaat, eine Republik? Gewiß, aber in dieser Republik herrschen heute noch die großen Kapitalisten so skrupellos und grau­sam wie in monarchischen Ländern des alten Europa . Die politische Macht ist auch dort in den Händen der Ausbeu­tenden. Und sie fehrt sich mit aller Schärfe gegen ein frei heitsglühendes Proletarierweib, das wie Annie Clemenc rebellentrotzig das Menschenrecht der Ausgebeuteten verficht.

Der Streik der Kupfergräber in Calumet dauerte Anfang Januar noch fort. Bemerkenswert ist, daß sich unter den Ausständigen sehr viele ärmiste eingewanderte Proletarier befinden. Sie stehen hinter den eingeborenen Amerikanern an Treue und Opfermut nicht zurück. Besonders zahlreich sind unter den streifenden Kupfergräbern die Finnen. Sie haben ihr eigenes sozialistisches Tageblatt im Minen­gebiet Thomies", dessen Redakteure widerrechtlich verhaftet und trotz angebotener Kaution im Gefängnis behalten wurden. Das verbrecherische Vorgehen der Berggewaltigen hat in den vergangenen Monaten die Gegensätze zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten bis zur Gluthige eines regelrechten sozialen Krieges entfacht. Die Einwohnerschaft der Stadt, der Gegend ist in zwei Lager geteilt. Die Arbeits­bedingungen der Kupfergräber schlagen derart einem men­schenwürdigen Leben ins Gesicht, daß die Ausständigen trotz aller Leiden und Verfolgungen von einer bedingungslosen Unterwerfung nichts wissen wollen. Sie sind in ihrer Ge­werkschaft, dem Bergarbeiterverband für den

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Westen, fest zusammengeschlossen. Die Gutgesinnten", das heißt die Besitzenden und ihr Anhang, haben sich in einer ,, Bürgerallianz" organisiert. Vorgeblich um die Ordnung" zu schützen, in Wirklichkeit, um gemeinsame Sache mit den Verbrecherbanden zu machen, die die Grubenherren zu dem Zwecke geworben haben, die Streifer zu Baaren zu treiben. Denn so sieht ihre ordnungsretterische" Tätigkeit aus:

Moyer, der Vorsitzende des Bergarbeiterverbandes, hielt sich Ende Dezember im Streifgebiet auf. Er suchte Verhandlungen zwischen den kämpfenden Parteien herbei­zuführen. Do wurden er und ein anderer Beamter des Berg­arbeiterverbandes plötzlich im Hotelzimmer zu Hancoc bon etwa 150 Mitgliedern der sauberen Bürgerallianz" meuchlings überfallen. Die Arbeiterverbreter waren ange­fichts der erdrückenden übermacht so gut tie wehrlos. Die gemeinsten Beschimpfungen und brutalsten Mißhandlungen hagelten auf fie hernieder. Schließlich erhielt Moyer einen Schuß in den Rücken. Die Ordnungshelden krönten ihr Werk, indem sie den Verwundeten und seinen Genossen 11, englische Meilen weit nach der Bahnstation schleppten oder richtiger mit Schlägen vorwärts stießen. Dort erwar tete MacNaughton in Person die Sieger", schmähte Moyer und erklärte ihm, er würde zusehen, daß er gehängt würde, wenn er je seinen Fuß wieder in das Grubenrevier setze. Die übrigen gutgesinnten Strolche brüllten unterdessen im Chor: Lyncht ihn, schießt ihn tot!" Kurz ehe der Zug nach Chicago abging, wurden Moyer und Tanner im buch­stäblichsten Sinne des Wortes in den Wagen geworfen. Zwei Kerle angeblich Gerichtsbeamte- begleiteten sie über die Grenze von Michigan . Sie erhielten von Mac Naughton Be­fehl, jeden Fluchtversuch der Arbeiterführer mit dem Nieder­schießen zu beantworten. Jawohl, mein Herr, das werden wir besorgen," erwiderten sie darauf und erlaubten Moyer nicht einmal, sich aufzurichten. In Chicago mußte sich der Verwundete sofort in ärztliche Behandlung begeben, durch eine Operation wurde die Kugel aus dem Rücken entfernt. Troß seines Zustandes unternahm Moyer alle notwendigen Schritte, damit der Bergarbeiterverband das Recht der strei­kenden Kupfergräber mit allem Nachdruck weiter verteidigt. Er war fest entschlossen, sobald er nur einigermaßen wieder hergestellt sei, in das Streifgebiet zurückzukehren.

Ein anderes Bild, das die Erbitterung des Kampfes im Michiganer Bergbezirk zeigt. Bei einer Weihnachtsfeier für die Frauen und Kinder der Streifenden verursachte ein Mann eine furchtbare Banik. Er schrie fälschlich unter die versammelte Menge: Feuer! Feuer!" und stürzte davon. In dem entsetzlichen, wilden Gedränge wurden mehr als 70 Menschen erdrückt oder tödlich verwundet, so daß sie seither ihren Verlegungen erlegen sind. Unter den Kupfergräbern wird allgemein geglaubt, daß der Mann ein Söldling der Grubenherren war. Das teuflisch heraufbeschtvorene Unglück, so meinen sie, sollte ihre Not aufs höchste steigern, Verwir­rung in ihren Reihen stiften und dadurch den unbeugsamen Willen zur Unterwerfung mürbe machen. Die Wut der Proletarier ist unbeschreiblich. Sie fühlen, daß nichts sie mit der Welt der Ausbeutenden und Herrschenden verbindet. Der ist nun die Angst in die Glieder gefahren. Um ihre seit­herigen Schuftereien zu verhüllen, sammelte die Bürger­allianz" für die Familien der Katastrophenopfer. Binnen kurzem brachte sie 25 000 Dollar zusammen. Mit präch tigem Stolze aber wiesen die hart getroffenen Streifenden jeden Cent Unterstützung von dieser Seite zurück. Sie wissen, was der Ruhm der Wohltätigkeit" ihren Todfeinden wert ist und wie teuer er von den Proletariern bezahlt werden soll. Keine Gemeinschaft mit den Blutsaugern und ihrer Sippe, das ist ihre Losung. Unter den Verzichtenden be­finden sich Familien, bei denen seit Monaten der Hunger am Tische hockt, bei denen es buchstäblich am trockenen Brot fehlt. Die Tatsache läßt ahnen, wie ungeheuer in Calumet die Ausbeutenden an ihren Opfern gesündigt haben müssen. Sie zeigt aber auch, wie stark und gesund trotz alledem deren

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