Nr. 11

Die Gleichheit

Hochschule das Studium der reinen Wissenschaften vermitteln. In der Technischen Hochschule würden die angewandten tech­nischen Wissenschaften vor allem gelehrt werden. Akademien der Künste könnten als selbständige Anstalten oder auch als Zweigabteilungen der technischen und wissenschaftlichen Hoch­schulen errichtet werden. Die Erziehung fünstlerisch Begabter durch einzelne hervorragende Meister müßte den weitesten Spielraum haben und kräftige Förderung finden. Später werde ich noch näher darauf eingehen, daß alle angewandte und ausübende Kunst, daß das Verständnis für die Kunst zuerst Hand in Hand mit dem Arbeitsunterricht gepflegt werden muß. Die Entfaltung der künstlerischen Begabung und die Erziehung zum Kunstgenuß dürfen nicht mehr das Vorrecht einzelner Menschen sein, sondern die Kunst muß dem ganzen Volke gehören. So erst wird sie ihre hohe Mis­fion erfüllen, Quelle der Freude und Mittel der Erziehung für alle zu sein.

Für die Einheitsschule aber soll das Erziehungsideal gel­ten, das Karl Marx  , der große Bahnbrecher der kämpfenden Arbeiterklasse, mit tiefeindringendem Blick formuliert hat, und das sich vollkommen mit der Auffassung der hervor­ragendsten neuzeitlichen Pädagogen deckt. Es ist das Grund­prinzip, das alle heutigen Schulreformer vorwärts treibt und das sie durchzuführen streben. Produktive Arbeit mit Unterricht und Gymnastik verbunden ist nicht nur eine Me­thode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, son­dern die einzige Methode zur Produktion allseitig entwickelter Menschen." Mit diesen Worten hat Mary den Weg gewiesen zu dem Ziel, das Goethe als höchstes Glück der Erdenkinder bezeichnet: zur Persönlichkeit. Die Arbeitsschule, wie wir sie erstreben, soll die Theorie in die Braris übertragen. Wir wollen feine ,, öden Bildungsfabriken, Kinderremisen, Kultur­schuppen und Unterrichtsspeicher", wie Gurlitt die Schulen ron heute nennt.

Die Schulen, die jetzt nach Muthefius Stätten der Wort­lehre sind, sollen Stätten der Tatlehre werden und dadurch unter anderem auch den Zusammenhang herstellen zwischen Elternhaus und Schule. Denn darin gerade besteht ja ein großer Fehler der heutigen Schulen, daß die Kinder dort in eine ihnen vollständig fremde, neue Welt kommen. Nicht genug damit, daß sie, die bis dahin sich ohne jeden Zwang herumtummeln und bewegen konnten, nun plöglich zu stundenlangem ruhigem Sigen gezwungen werden. Es wird auch im Unterricht nicht angeknüpft an das, was die Kinder an Wissen und Eindrücken in die Schule mitbringen. Sie werden im Gegenteil auf vollständig neue Bahnen ge­drängt. Ihr Geist, ihr Gedächtnis wird angefüllt mit einer Unmenge abstrakten Wissens. Wir haben überfüllte Klassen, überfüllte Lehrpläne und geradezu chinesische Schulprüfungs­verhältnisse. Von den Kindern aller unserer Schulen wird biel zu viel abstraktes Wissen verlangt. Unsere Lehrpläne basieren auf der Annahme, daß der Mensch um so wertvoller ist, je mehr er weiß, ohne sich darum zu kümmern, ob er dieses Wissen verdaut hat, ob er es praktisch anzuwenden versteht. Ein bekannter Kinderpathologe, Professor Dr. Trüper in Jena  , schildert die unheilvollen Folgen dieses Ein­pfropfens von totem Wissen wie folgt: Wer ein gutes Ge­dächtnis hat für Worte, und wenn es oft auch nur Worte find, und für Zahlen, und wenn sie vielleicht auch nur Ziffern bedeuten, der besteht manchmal glänzend die Schulprüfungen und kann auf den Schulbänken die Fahrt durch das Tor manches Berufs einfach absigen.... Wer nun in das intellek­tuelle Schablonenmaß im öffentlichen Schulleben nicht ohne weiteres hineinpaßt, auch wenn Sitte und Sittlichkeit intakt find, der wird nicht selten in seinem jugendlichen Seelenleben grausam mißhandelt, dem wird von Eltern und Lehrern prophezeit, in der Jugend unfehlbar prophezeit, daß nichts Gescheites aus ihm werden kann." Professor Trüper be­fürchtet sogar, daß durch unsere übertriebene Geisteskultur eine Erschöpfung des Intellekts und dadurch eine Gehirn­und Geistesschwäche bei unseren Nachkommen bewirkt werde.

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,, Einer Verstandesüberkultur entspricht fast immer eine Willensverkümmerung. Wegen unseres Intellektualismus haben wir so wenig Tatenmenschen, und gerade solche braucht unsere Zeit."( P. Schmittler, Soll mein Sohn Lehrer wer­den?) überall wird zu viel Wissenschaft eingepauft und zu wenig die Fähigkeit entwickelt, Wissen, Erkenntnisse praktisch zu verwenden. Die Ausbildung des Körpers wird über totem Lernen vernachlässigt, und die Erziehung von Herz und Ge­müt kommt zu furz. Was die Schule in hygienischer Beziehung verschuldet, läßt sich leicht feststellen. Immer mehr nimmt die Kurzsichtigkeit überhand, und man sieht in Deutschland  erschreckend viele Schulkinder mit Brillen. In England sind Brillenträger viel seltener. Dort ist aber auch das Verhält­nis der Turnstunden zum übrigen Unterricht wie 1 zu 4, während es bei uns etwa 1 zu 20 ist. Sehr häufig findet man bei Schülern zu großen Blutandrang nach dem Gehirn. 90 Prozent der Rückgratverkrümmungen entstehen während der Schulzeit infolge des Sigens. Durch Schulärzte wurde festgestellt, daß ein Schüler während eines Schulmonats durchschnittlich nur etwa 0,30 Zentimeter wächst, in einem Ferienmonat aber um 0,64 Zentimeter. Die vielen Schüler­selbstmorde sind zum großen Teil auf die vielen Nerven­aufregungen und seelischen Depressionen zurückzuführen, die mit dem heutigen Schulbetrieb oft, ja fast stets Hand in Hand gehen. Ein großer Teil unserer Schulkinder hat auch in den Freistunden nicht genügend Zeit, zu spielen, sich herumzutummeln. Trotz aller Schutzvorschriften der Unter­richtsbehörden über die Dauer der häuslichen Aufgaben für die Schule nehmen diese viel zu viel Zeit in Anspruch. Wir wollen nicht erst von den sehr vielen Kindern reden, die zu ungesunder, zermürbender Erwerbsarbeit gezwungen werden. Die Lern- und Drillschule ist zum Unglück für unsere Jugend geworden. Da verlernen kleine Kinder schon ihr natürliches Lachen, ihr sorgloses Geplapper und ihre vertrauensvollen Fragen. Da ertötet ein fürchterlicher Geist der Zucht und Ordnung jedes natürliche Leben." Wir unterschreiben diese Säße Gurlitts.

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Tatsachen wie die angeführten zeigen, daß die Schule die Aus­bildung des Körpers zu praktischer Tätigkeit vernachlässigt. Dadurch gehen eine Menge wertvoller Anlagen des Kindes zu­grunde. Das Wort Pädagogik" kommt von dem griechischen paidagogos  ", was eigentlich Knabenführer" heißt. Aber nicht in das papierene Leben der Schulklasse und der Schul­bücher sollte der Pädagoge unserer Zeit seine Schüler führen, sondern hinein in Werkstätten, Ausstellungen, Museen, hinaus in Wälder und Felder. Man hat lange geglaubt, durch den Anschauungsunterricht diesen lebendigen Unterricht ersetzen zu können. Aber auch im Anschauungsunterricht bleiben die physischen Kräfte der Kinder brach liegen; auch er beschäftigt nur einen Teil ihrer Sinne. Der Anschauungsunterricht muß mit der Arbeit Hand in Hand gehen, denn erst durch die Arbeit dringen wir in das Wesen der Dinge ein. Der Ar­beitsunterricht baut auf dem, was die Kinder in die Schule mitbringen, nämlich auf dem Spieltrieb. Dieser Spieltrieb aber ist im Grunde Betätigungstrieb. Die Kinder wollen nachahmen, was sie bei den Erwachsenen sehen. Beobachtet man die Kinder beim Spiel, so wird man finden, daß bei allem, was die kleinen Hände treiben, auch der Geist stark beteiligt ist. Diese Wechselwirkung zwischen Geist und Hand wurde bisher in der Schule außer acht gelassen. Noch immer lebt die Schule unter der Zwangsvorstellung, die schon Pestalozzi bekämpfte, daß sich mit den Händen nichts Bes­seres machen lasse, als Bücher und Federn darin zu halten".

Unser Genosse Robert Seidel, der bekannte Züricher   Pä­dagoge, der die Handarbeit zum Grund und Eckstein aller harmonischen Bildung und Erziehung machen will, schildert sehr anschaulich an dem Beispiel eines Stückes Holz, wie man dieses durch die Anschauung nicht vollständig, sondern nur zum Teil kennen lernt. Ich kann durch die schärfste und geistig vertiefteste Anschauung niemals erfahren, ob das Holz hart oder weich, zähe oder spröde, biegsam oder brüchig,