Nr. 14

Die Gleichheit

gierung hat diese Meldung in einer Form abgeleugnet, die eher eine Bestätigung ist. Sie hat ferner der zarischen Regierung offi­ziös ihren Willen zum Frieden versichert. Aber auf derartige Erklärungen ist nicht das mindeste zu geben, denn sie gehören ein­fach zur diplomatischen Etikette. Die Arbeiterklasse darf sich durch die Winkelzüge und offiziellen Lügen der Diplomatie die einfache Tatsache nicht verdunkeln lassen, daß die einzige Macht, die heute die Kriegsgelüfte der herrschenden Klassen zu dämpfen und zuletzt zu bändigen vermag, der revolutionäre Wille und die kühne Tat­fraft des Proletariats ist.

Mit seinem Löwengebrüll wider das russische Säbelgerassel ent­schädigt sich das deutsche Bürgertum auf billige, aber immerhin gefährliche Weise für seine erbärmliche Feigheit und Knechtselig­feit gegenüber dem heimischen Militarismus. Diese Knechtselig­feit zeigte sich wieder einmal im glänzendsten Lichte bei der jüngsten Duell debatte im Reichstag. Ein Mezer Offizier hatte die Frau eines Kameraden" verführt und dann diesen im Zweikampf über den Haufen geschossen. Die Debatte des Reichs­tags, die an diesen Fall anknüpfte, offenbarte nicht nur die völlige Ohnmacht, sondern auch die Unlust der bürgerlichen Parteien, der feudal- militärischen Raufmoral ernsthaft zu Leibe zu rücken. Wie fann das anders sein, wenn die Bourgeoisie, wie ein national­liberaler Redner das bekundete, selbst bis in die Fingerspitzen durchseucht ist von den Moralanschauungen der adeligen Raufbolde?

Die militärische Kaste durchstößt denn auch rücksichtslos die Papierkulissen der Verfassung, vor denen das Bürgertum fo­mödienhafte Scheintämpfe aufführt. Das Budgetrecht des Reichs­lags galt immer als heiligstes Palladium der bürgerlichen Frei­heit. Der Militarismus fümmert sich den Teufel darum, wenn cs ihm nicht in den Kram paßt. So hat der Reichstag verschiedene Male die Forderung abgelehnt, eine pompöse 16zimmerige Villa in der teuersten Gegend Berlins für den Chef des Militär= tabinetts anzuschaffen. Das Kriegsministerium hat die Villa einfach gekauft, und der Reichstag muß die Sache schlucken.

Wie die Kosten der letzten Wehrvorlage, die dem Namen nach die Besitzenden aufbringen sollen, tatsächlich auf die Besitzlosen abgewälzt werden, dafür sind in der letzten Zeit eine Reihe Be­lege erbracht worden. Ein klassisches Beweisstück ist ein Schreiben der Dortmunder Grunderwerbsgesellschaft an ihre Mieter. Darin wird als Ersatz für den Wehrbeitrag und andere direkte Steuern eine monatliche Extragebühr von 1,50 Mt. von jedem Mieter verlangt. Und die anderen Hausbesitzer von Dortmund fordern den zehnfachen Betrag von ihren Mietern, wie in dem Schreiben behauptet wird.

Keine Woche, ja kaum ein Tag vergeht, ohne daß ein Opfer des Militarismus fällt. Der Bergmann Gerhard Niß vom 8. badischen Infanterieregiment Nr. 169 in Lahr beging Selbst­mord. Was ihn in den Tod getrieben hat, ist deutlich ausge­sprochen in einem Briefe, den er kurz zuvor an seine Schwester schrieb, und in dem es heißt: Hier geht es ganz verrückt zu. Vor ein paar Tagen habe ich mich tatsächlich mit Selbstmord­gedanken getragen." Schweren Mißhandlungen suchte der Kanonier Kurich von der 6. Batterie des Artillerieregiments Nr. 6 in Reiße durch Selbstmord zu entrinnen. Er schnitt sich die Puls­adern mit dem Brotmesser auf. Wider seinen Willen gerettet, be­mußte er den Weihnachtsurlaub zur Deſertion ins Ausland. Die­jenigen, die den Unglüdlichen zur Verzweiflung getrieben hatten, ein Obergefreiter und ein Unteroffizier, famen mit leichten Ge­fängnis- und Arreststrafen davon. Wegen Mißhandlung seines Burschen wurde ein Major des Artillerieregiments Nr. 48 zu einer überaus milden Strafe verurteilt". Eine schwerere Strafe crhielt der Unteroffizier Pösek von der 6. Kompagnie des 50. Infanterieregiments. Er mißhandelte Rekruten planmäßig mit der Klopfpeitsche und schleuderte ihnen den Inhalt von Spuck­näpfen ins Gesicht. Und dann erpreßte er noch von einem der Mißhandelten 3 Mt. Er wurde zu zwei Jahren Gefängnis ver­urteilt und degradiert. Das barbarische Zwangssystem des Mili­tarismus wird aber trotz aller seiner Scheußlichkeiten von den be= sizenden Klassen mit Nägeln und Zähnen verteidigt. Der strenge Arrest ist eines der niederträchtigsten Folterwerkzeuge in der Hand der Soldatenerzieher. Bei Verhandlungen darüber im Reichstag war es allein die Sozialdemokratie, die für seine Ab­schaffung eintrat. Aber ihre anklagende Stimme verhallt vor dem nur allzu klaren Bewußtsein des Bürgertums, daß nur noch die militärische Gewalt die kapitalistische Herrschaft aufrechterhalten fann, und daß allein der Schrecken noch imstande ist, diese mili­tärische Gewalt fünstlich zusammenzuhalten.

Den Schichten des liberalen Bürgertums, die unmittelbar im fapitalistischen Erwerbsleben stehen, beginnt schon das kümmer­

219

liche Zerrbild einer demokratischen Einrichtung lästig zu werden, das der Reichstag vorstellt. Auf dem Deutschen Handels= tag in Berlin konnte ein Redner unter stürmischem Beifall der ganzen Versammlung dem Reichstag den Fehdehandschuh hin­werfen. Das heißt aber nichts anderes, als das Reichstags= wahlrecht abschwören. Und die da jubelnd zustimmten, bil­den den Kern der liberalen Parteien, der Nationalliberalen und des Freisinns! Der Zug im Bürgertum zur Reaktion, und zwar zur nacktesten und gewalttätigsten Reaktion, trat auch bei der Nach­wahl im sächsischen Reichstagswahlkreis Borna - Pegau offen zutage. Dem freifonservativen Reichsverbandshäuptling General v. Liebert, berüchtigt durch höchst zweifelhafte koloniale Gründergeschäfte, liefen an die tausend Wähler aus dem national­liberalen Lager zu. Der sozialdemokratische Kandidat gewann 500 Stimmen. Zwischen ihm und dem Reichsverbändler hat Stichwahl stattzufinden. Der General war in seinem Wahlfeld­zug offen gegen das bestehende Reichstagswahlrecht losgegangen und hatte Ausnahmegeseze gegen die Gewerkschaften und Er­höhung der Lebensmittelzölle verlangt. Die Nationalliberalen haben just deshalb Stichwahlparole für ihn ausgegeben.

Die Verhandlung des Reichstags über den Kolonialetat wurde von der sozialdemokratischen Fraktion zu einer ebenso sachkundigen wie energischen Kritik der deutschen Kolonialpolitik benutzt. Die sozialdemokratischen Abgeordneten waren die ein­zigen ernsthaften Verteidiger der mißhandelten, schonungslos aus­gebeuteten Eingeborenenbevölkerung. Aber ihre Anklagen fanden bei den interessierten Verfechtern der kolonialen Ausbeutung taube Ohren. Die eingeborene Bevölkerung der Kolonien schmilzt unter den Strahlen der Zivilisation" zusammen wie Schnee vor der Sonne. Das Kapital, das ohne die Arme der schanzenden Ein­geborenen in den Kolonien verloren ist, verzehrt die eingeborene Arbeitskraft in seiner blinden Raffgier, ohne an das Morgen zu denken. Die Zustände in den deutschen Kolonien werden durch die Zahl von 82 Hinrichtungen in einem Jahre ebenso gekennzeichnet wie durch die unerhörten Gewalttaten der Kolonialverwaltung von Kamerun gegen den tapferen Führer der Dualla, der seine Stammesgenossen gegen den drohenden rechtswidrigen Raub ihres Landes verteidigte. Rudolf Bell wurde an einer Reise nach Deutschland zur Vertretung der Rechte seiner Landsleute da­durch verhindert, daß ihm die Auswanderungserlaubnis versagt wurde auf Grund eines Reskripts, das der Anwerbung von Kamerunnegern zu Schaustellungen für europäische Panoptikums und Ausstellungen wehren will! Der Mann wollte vor den Reichstag ! Ein dringendes Telegramm an diesen, das gegen widerrechtlichen Landraub protestierte, wurde fünf Tage zurück­gehalten bis die Information für den Reichstag zu spät fam. Bells Sekretär, dem es gelang, zu entfliehen, wurde bei seiner Landung in Deutschland auf telegraphische Anordnung aus Afrifa sofort verhaftet. Die kolonialen Herrenmenschen pfeifen überhaupt auf den Reichstag . Dieser hatte sich wiederholt gegen die Verhinderung gefeßlicher Ehen zwischen Weißen und Ein­geborenen auf Samoa ausgesprochen. Die Kolonialverwaltung aber tehrt sich nicht daran. Für Deutschostafrika und Deutschsüd­westafrika wurden zwei neue große Eisenbahnlinien bewilligt. Ihr Zweck ist, neue Arbeitskraft unter die Botmäßigkeit der weißen Her­ren zu bringen. Abgelehnt wurden die Gewährschaften, die die So­zialdemokratie zum Schuße der Arbeiter beim Bahnbau verlangte. Die Frau des französischen Finanzministers Caillaug hat den Redakteur des Figaro" erschossen, um sich gegen dessen un­aufhörlichen und zum Teil schmugigen Angriffe auf ihren Mann zu wehren. Die Schüsse ihres Revolvers haben eine Schlammlawine ins Rollen gebracht, die sich gleichmäßig über alle bürgerlichen Bar­teien ergießt. Die Größen der sogenannten vadikalen Partei wie die der reaktionären Parteien decken gegenseitig ihre völlige politische und moralische Verderbnis auf. Nur die Sozialdemokratie steht in diesem Zusammenbruch intakt da.

-

Die neue Ara der Aufrüstung, die mit dem Balkankrieg und der letzten deutschen, Militärvorlage begann, geht folgerichtig ihren Weg durch alle großen und auch die kleinen europäischen Staaten. Osterreich- Ungarn vermehrt die Friedensstärke seiner Armee. Die Regierung hat, um die neuen Rüstungen ungehemmt durch die Volks­vertretungen vornehmen zu können, die nationalen Konflikte zwischen den bürgerlichen Parteien Böhmens benutzt, um den Reichsrat nachy Hause zu schicken und die betreffenden Vorlagen auf absolutistischem Wege zu oftroyieren. In Rußland verhandeln die Minister mit einer gefiebten Auswahl von Dumamitgliedern über neue Militär­vorlagen, die die Friedensstärke des Heeres angeblich um 400 000 Mann erhöhen sollen. Die englische Regierung brachte dieses Jahr einen Flottenetat von über einer Milliarde Mark ein.