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Die Gleichheit

er selbst aller Wahrscheinlichkeit nicht einschreiten werde. Dar­aufhin rieten die Arbeiterführer den Streifenden, sich zu bewaff­nen, um gegen die Miliz gerüstet zu sein, sowie auch um Mutter Jones bei ihrer Rückkehr gegen die militärischen Strauchritter ver­teidigen zu können.

Am 12. Januar kam Mutter Jones nach Trinidad zurück. Vor­sichtshalber verließ sie den Zug vor der Stadt. Kaum war ihre An­wesenheit bekannt geworden, als die Miliz erschien, Mutter Jones aus dem Hotel zerrte, in ein bereitstehendes Automobil warf, das in schnellstem Galopp mit ihr durch die Straßen sauste, vorn und hinten eine Abteilung Kavallerie als Bewachung. Einige hundert Kohlengräber, die sich in den Straßen befanden, jubelten Mutter Jones zu, die nach dem San- Rafael- Hospital gebracht wurde, wo sie unter strengster Bewachung, abgeschnitten von jedem Verkehr mit Freunden gefangen gehalten wird.

Wie eine schwere Verbrecherin wird eine Frau, eine Greisin be­handelt und mißhandelt, die durch ein aufopferungsreiches Leben bewiesen hat, daß sie zu den Besten ihres Geschlechts gehört, daß sie eine Zierde der Menschheit ist. Die Staatsbehörden treten dabei die Verfassung mit Füßen. Die Miliztruppen werden aus Schützern des Vaterlandes zu Bütteln der Grubenkapitalisten, des schamlos ausbeutenden Geldsacks. Und das alles im Staate Colorado , wo seit rund 20 Jahren das Frauenwahlrecht besteht, dessen Wunder­wirkungen als Alleinheilmittel aller sozialen Gebrechen die bürger­liche Frauenrechtelei nicht genug preisen kann. Und das verdient noch hervorgehoben zu werden: soweit bis jetzt Nachrichten vor­liegen, hat sich in der bürgerlichen Frauenwelt des Staates Colo­ rado und der nordamerikanischen Union überhaupt kein Sturm der Entrüstung ob der empörenden Schandtat erhoben, deren sich die staatlichen Landsknechte der Grubengewaltigen wider das Staats­bürgerrecht, die Frauenwürde, das Menschentum einer Geschlechts­genossin schuldig gemacht haben. Was ist in diesem Falle aus der so oft beschworenen großen Schwesternschaft" aller Frauen ge= worden? Sie ist an der Solidarität der bürgerlichen Damen mit den ausbeutenden Mammonsfürsten zu den Hunden geflohen. Sollen uns diese nackten, unumstößlichen Tatsachen vielleicht ver­anlassen, in das laute Schellengeflingel der Anarchisten einzustim­men, das Wahlrecht als ein Mittel der Prellerei der Ausgebeuteten zu erklären, den Kampf für seine Eroberung und seinen Gebrauch als eitel Torheit? Nichts wäre furzsichtiger und unseren Feinden erwünschter! Diese Tatsachen zeigen nur den Proletarierinnen, daß sie ebensowenig das leere frauenrechtlerische Gegacker ernst nehmen dürfen von der Solidarität aller Frauen und dem Wahl­recht als Endziel ihres Befreiungsringens. Sie lenken den Blick auf die alte Wahrheit, daß der Klassengegensatz zwischen Aus­beutern und Ausgebeuteten auch die Frauen in zwei Welten teilt und daß für die Proletarierinnen das Wahlrecht nicht Endziel ihres Befreiungskampfes sein kann, sondern nur Waffe für diesen Kampf. Die erdrückende Mehrzahl der deutschen Damen, die schon heute das Wahlrecht aller Frauen hassen und fürchten, würden sich unter ähnlichen Umständen wie in Colorado um fein ota anders verhalten wie ihre Schwestern in Amerika .

Frauenstimmrecht.

Eine demokratische Wahlrechtsreform für England hat die Arbeiterpartei beantragt. Nach ihrer Vorlage sollen alle Männer und Frauen vom 21. Lebensjahr an das politische Wahl­recht erhalten, vorausgesetzt, daß sie an einem der vier jährlichen Tage für die Einzeichnung in die Wählerliste vier Wochen in dem Wahlkreis gewohnt haben. Die Pluralstimmen des Besitzes wie auch die Vorrechte der Universitäten werden abgeschafft. Die Wahlen sollen an einem Sonnabend stattfinden, der als öffent­licher Feiertag zu erklären ist. Der Antrag der Arbeiterpartei ent­hält noch Bestimmungen zur Vereinfachung der Stichwahlen, über Registrierungsbeamte, Wahlvorsteher usw. Er sollte am 20. März in zweiter Lesung verhandelt werden, Meldungen darüber liegen jedoch nicht vor.

Eine Wahlrechtskundgebung der bürgerlichen Frauenrecht lerinnen in Paris ist der glänzenden sozialistischen Manifestation zum Internationalen Frauentag gefolgt. Das Nationalkomitee" der französischen Frauen hatte für den 11. März eine Versamm­lung einberufen, die sehr stark besucht war. Es sprachen bürger­liche und sozialistische Rednerinnen und Redner. Die angenom­mene Resolution fordert das Parlament auf, noch in dieser Ses­sion die Vorlage über das Gemeinde- und Bezirkswahl­recht der Frauen zu verabschieden. Erwähnt sei, daß ein Tageblatt, das" Journal", Propaganda dafür macht, daß die Frauen gelegentlich der kommenden Kammerwahlen Abstim­

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mungen veranstalten, die den Charakter einer Demonstration für das Frauenwahlrecht tragen sollen. Das Journal" ist weit ver­breitet, aber ohne Ansehen, da es auf den Publikumfang durch Sensationen zugeschnitten ist. Viel mehr als eine Reklame für das Blatt dürfte bei dem Vorschlag nicht herauskommen, das aber ist wohl auch der Zweck.

Verschiedenes.

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Gedanken eines Arbeitslosen. Wie ein Wolfenschatten plötzlich eine sonnige Landschaft verdüstert, so rasch und unbemerkt war es gekommen. In allen Etagen und Abteilungen des großen Fabrik­gebäudes wurde nur von schlechtem Geschäftsgang geredet. Und in den Augen und auf den Lippen aller liegt nun die bange Frage: Wie soll das werden? Manche suchen sich wohl den Schein der Gleichgültigkeit zu geben und sagen:" Na, wenn's hier nicht ist, dann ist's wo anders." Allein heimlich denken auch sie mit Un­behagen an den Augenblick, da man sie wird gehen heißen, und an die Tage des Suchens nach Arbeit und Brot. Früher oder später gibt es ja wieder irgendwo Beschäftigung, aber bis dahin? Ein Loch reißt es allemal, und ehe das wieder zu ist, vergehen Monate. ... Wer wohl der nächste sein wird, wenn's zu Entlassungen femmt? Mitleid und Mißtrauen beseelt alle. Der Selbsterhaltungs­trieb macht sie egoistisch. Jeder ist sich selbst der Nächste. Wie soll das werden?

So, nun bin ich draußen. Arbeitslos! Bin frei! Wenn an prächtigen Sommertagen die Sonne durch die düsteren Fenster­scheiben in den Arbeitssaal lachte, dann sehnte ich mich hinaus in die Natur und in die Ferne. Aber ich war gebannt an meine Ar­beitsstelle. Jetzt bin ich frei und-habe die Aussicht aufs Hungern. Ja, es ist eine wundervolle Sache: die Freiheit des Arbeiters. Ich habe doch immerhin Glück gehabt, fast ganze zehn Jahre habe ich ohne Unterbrechung gearbeitet auf einer Stelle. Zehn Jahre lang! Und die Früchte meiner zehnjährigen Arbeit? Nun freilich, ich habe nichts und bin so arm wie zuvor. Nein! noch ärmer! Ich habe zehn Jahre meines Lebens verloren und manche Hoffnung begraben. Es ist ein grausames Schicksal: wir bleiben arm, weil wir arbeiten. Wir müssen arbeiten, weil wir arm sind.

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Unsere theologischen Schwäßer können sich nicht genug darin tun, den lieben Gott zu loben, wie zweckmäßig er alles auf Erden eingerichtet habe. Das Gras ist grün, das Wasser naß, der Himmel Hoch weil sonst die Aviatiker mit ihren Fahrzeugen nicht ge= nügend Bewegungsfreiheit hätten die Fische leben nicht auf dem Trockenen und die Vögel nicht im Wasser. Kurz, der liebe Gott hat alles just so eingerichtet, wie es sein muß. Aber welchen Sinn hat nun die harte Tatsache, daß keine Arbeit vorhanden ist für eine große Zahl Menschen, die als armer Leute Kinder zur Welt kom­men, und die folglich wieder Arbeiter werden müssen?

Ein mächtiger Fürst soll einstmals also gesprochen haben: Schwerste Strafe denen, die andere an freiwilliger Arbeit hindern. Ich möchte gern arbeiten, und ich muß arbeiten, sonst muß ich und meine Familie verhungern. Vom frühen Morgen bis zum Abend laufe ich herum und suche Arbeit. Ich würde Steine farren, Säcke tragen, Straßen fegen. Eine jede Arbeit wäre mir recht. Aber man läßt mich nicht arbeiten. Wenn jener Fürst wirklich sein Wort wahr machen wollte, er müßte die ganze bürgerliche Gesellschaft einsperren!

Jeden Tag früh, wenn ich mit einem trockenen Stück Brot in der Tasche auf die Suche nach Arbeit gehe, ruft mir mein Weib nach: Geh in Gottes Namen!" Die Ahnungslose! Wahrscheinlich glaubt sie, daß ich eher Arbeit finde, wenn sie mich unter Gottes Schutz stellt. Sie weiß nicht, daß es nicht einmal nützen würde, wenn man sich dem Teufel verschriebe.

Wie erniedrigend das Gefühl ist, um Arbeit bitten zu müssen. Arbeit gehört doch zum menschlichen Leben wie Luft, Licht und Wasser. Und wir müssen sie uns erbetteln! Tagelang heben wir vom Arbeitsnachweis nach den gemeldeten offenen Pläßen. Oder wir rennen von den Ausgabestellen der Tagesblätter nach allen Windrichtungen. Nach allen Hoffnungen auf Arbeit und Verdienst hören wir dann ein trockenés: Leider besetzt" oder: Schon er­ledigt". Die Phantasie der alten Griechen ließ Tantalus in der Unterwelt leiden, indem die Zweige mit den herrlichsten Früchten immer wieder zurückwichen, nach denen der Verschmachtende langte. Die Qualen eines modernen Arbeitslosen sind nicht ge= ringer. Einen Hoffnungsschimmer gäbe es freilich für ihn: er fönnte bald verhungern! Heinrich Holet.

Berantwortlich für die Redaktion: Frau Klara Bettin( Bundel), Wilhelmshöhe, Bost Degerloch bei Stuttgart . Druck und Verlag von J. H. W. Diez Nachf. G.m.b.H. in Stuttgart .