Nr. 15

Die Gleichheit

geln das heiße Bemühen wieder, mit dem die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus im Ausland und der junge politische Kämpfer in der Heimat nach Klarheit trachteten über die gangbarsten und erfolgreichsten Wege, auf denen das kämpfende deutsche Proletariat damals seine Vorposten und seine Kolonnen vorwärtsschicken konnte.

Es begreift sich, daß oft genug die Meinungen darüber auseinandergingen. Die lange zeitliche Trennung vom Ariegsschauplatz ließ Mary und Engels manche Bedingungen des Kampfes irrig einschäßen, und so hatte Bebel gewiß Grund, gelegentlich einmal über die Nörgelei der Alten in London " zu wettern. Jedoch wird sich nach der Lektüre der vorliegenden Briefe niemand des Eindrucks erwehren, diese Nörgelei" hat ihr gut Teil dazu beigetragen, daß Bebels Plick sich nicht in dem üppig wuchernden, vielverschlungenen Nahe und Allzunahe verlor, daß er vielmehr darüber hinaus immer wieder die großen allgemeinen Ziele und Bedin­gungen des proletarischen Befreiungskampfes festhielt. So in den Jahren, von denen uns die Denkwürdigkeiten berich ten, so auch später noch. Das freundschaftliche geistige Ringen zwischen dem Theoretiker Engels, der ganz Kämpfer war Marr starb bekanntlich schon 1883 und dem Praktiker, der klares theoretisches Erkennen als Bürgschaft des Erfolges erstrebte, ist zweifelsohne von mächtig fördernder Bedeutung für Bebels Entwicklung und Haltung gewesen. Das tritt in der Geschichte der Sozialdemokratie seit Engels Tod im Jahre 1895 deutlich zutage. Die Bebel später befreundeten Epigonen der großen Meister unserer Theorie sind nicht von den Maßen, daß sie Engels Einfluß auf den größten Ar­beiterführer auch nur annähernd zu ersetzen vermocht hätten.

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Bebels Erinnerungen von dem Raten und Taten der Partei in den schicksalsschweren Jahren zeigen in flüchtiger, sicherer Federzeichnung manche verdienstvolle, bedeutende Charakter­gestalt. So den edlen Geib, dem das Sozialistengeset buch­stäblich das Herz brach, so vor allem den Mann, dem Bebel für seine erste Entwicklung vom Demokraten zum Sozial­demokraten viel verdankt, und der sich als roter Postmeister" höchstes und dauerndes Verdienst um die Sozialdemokratie erworben hat: Julius Motteler , ein genialisch angelegter Mensch", dessen Dichter- und Künstlernatur" sich mit Ener­gie und Findigkeit, mit Geschäftskenntnis und aufopfernder Arbeitsunermüdlichkeit vertrug. Das Kapitel von der Ver­breitung des Sozialdemokrat" und dem roten Postmeister" gehört zu den frischesten und reizvollsten Darbietungen des Bandes. Wer dazu noch J. Bellis volkstümliches Büchlein lieft: Die rote Feldpost", der blidt nicht nur auf ein bedeut­fames Stück vergangener Parteiarbeit zurück, der spürt den Hauch des trozigen Rebellengeistes selbst, der unter der deut­schen Arbeiterklasse umging.

Inmitten der Kämpfe und Kämpfer aber, die in den Denk­würdigkeiten an uns vorüberziehen, finden wir immer wieder Bebel selbst. Um was es sich auch handle, er steht leibhaftig vor uns, nicht etwa, weil literarischer oder politischer Ehr­geiz ihn gestachelt hätte, von sich zu reden, nein, ganz ein­fach, weil er von sich reden, weil er da sein mußte. Das aller­dings in ganz anderem Sinne als die landläufige Memoiren­literatur es versteht. Bebels persönliches Leben ging so gut wie restlos in das Leben der Sozialdemokratie ein. Deshalb mußten auch seine persönlichen Erinnerungen bis zum Rande von dem Leben der Partei erfüllt sein. Aber gerade, weil dem so war, stellt nicht etwa er, schiebt vielmehr das Weben und Ringen der Partei Bebels Persönlichkeit in den Mittelpunkt des dritten Bandes der Denkwürdigkeiten. Die Sozialdemo­fratie hat das beste Herzblut des Mannes getrunken, nur in ihrer Geschichte konnte dieser sich selbst ganz finden und dar­stellen. Wenn Bebel in seinen Erinnerungen schildert, wie unter dem Sozialistengesez die Partei aller Ketten spottend sich reckt und streckt, wie sie in reifer Kraft zum Schrecken ihrer Todfeinde wird, so tritt gleichzeitig vor unser Auge das Bild seines eigenen Wachsens und Wirkens. Er steht dann vor uns nicht in dem bengalischen Farbenspiel ver­

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Iogener Bekennerbücher", sondern im hellen Tageslicht der Geschichte.

Den zweiten Band von Bebels Erinnerungen haben sehr biele enttäuscht beiseite gestellt, er hatte allzu stark unter den langatmigen und keineswegs überzeugenden Darlegungen über Schweitzer gelitten. Den dritten Teil wird sicher nie­mand unbefriedigt zuschlagen. Hier strebt und webt der historische Bebel, und zwar in der schwersten und ausschlag­gebenden Zeit seines Lebens, da er noch nicht, ein Fertiger, auf den Höhen wandelt, sondern ein Werdender, von Feinden gehezt, von tausend Nöten gespornt kühn und ausdauernd über Schroffen und Abgründe zu den Höhen emporklimmt. Hier hat jeder Tag seine eigene Plage und heischt den Einsatz der ganzen Kraft, ja mehr noch: mit der Einforderung für große Zwecke treibt er diese Kraft immer weiter und höher über ihre scheinbaren Schranken hinaus. Es ist Frühlings­zeit, Frühsommerszeit, und was unter Stürmen heranwächst und heranreift, das ist aus edlem Mark und kernfest. Der Reiz dieses Wachsens und Reifens geht still durch die Blätter des letzten Bebelbuchs. Wohl hört man hier und da einmal aus dem müden, milden Ton der Erinnerungen heraus, daß der alternde Führer Vergangenes wertet, jedoch im allge­meinen redet und agiert vor uns der junge Voranschreitende der sozialistengesetzlichen Zeit. Indem uns Bebel mit seinen Denkwürdigkeiten wichtige Beiträge zur Geschichte der Partei schenkt, läßt er auch vor unseren Augen sein eigenes Bild erstehen. Zug für Zug tritt es lebendig aus dem großen ge­schichtlichen Hintergrund hervor. Bebels gewaltige Lebens­arbeit das lassen seine Erinnerungen deutlich empfinden- ist das unvergängliche Kunstwerk, das seine Persönlichkeit festhält und kündet.

Gegen den staatlichen Gebärzwang.

Rede der Genossin Zietz auf der Berliner Protestversammlung vom 3. März gegen das von den bürgerlichen Parteien geforderte gesetz­liche Verbot des Verkaufs antikonzeptioneller Mittel.* Der erzreaktionäre Charakter des zur Besprechung stehen­den Antrags ist durch die Darlegungen der Genossen Brey und Dr. Silberstein grell beleuchtet worden. Das geforderte Gesetz ist eine Ungeheuerlichkeit und eine Torheit. Einer so allgemeinen Erscheinung wie der Geburtenrückgang, die in dem großen Komplex wirtschaftlicher, sozialer und politischer Verhältnisse unserer Zeit wurzelt, glaubt man beikommen zu können, wenn man den Bundesrat mit diskretionärer Gewalt ausrüstet, den Verkauf von antikonzeptionellen Mit­teln zu verbieten, und dem Büttel den Auftrag gibt, die Sünder, so wider dieses Verbot handeln, zu ermitteln und vor den Kadi zu schleppen. Gefchähe das, wäre damit der Bolizeischnüffelei und dem Denunziantentum Tor und Tür geöffnet, und der moralische Schaden für das Volk würde sich den bereits geschilderten gesundheitlichen Gefahren zugesellen. Der Polizei diese Aufgabe, unserer Polizei, die mit Agents provocateurs und mit Spigeln à la Reiling arbeitet, die im Kölner Polizeibestechungsprozeß, im Beuthener Roheits­prozeß und in tausend anderen Fällen sich im hellen Glanze ihrer untadeligen" Amtsführung gezeigt; die bei der Theaterzensur, beim staatlichen Kampfe gegen die Unsitt­lichkeit", gegen die Schundliteratur und in vielen anderen Dingen den glänzenden Befähigungsnachweis" für alle diese Aufgaben erbracht, indem sie mit schier unerreichter Geschicklichkeit sich eine Blamage nach der anderen zuzog und Deutschland dem Gelächter der Welt preisgab!

Aber unsere Rückwärtser wissen keinen anderen Rat als den Ruf: Polizei her! Strafrichter vor! Bundesrat, ver­ordne! Der staatliche Gebärzwang nur kann helfen! Und

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* Siehe Gleichheit" Nr. 13. Raummangel und Rücksicht auf die Mannigfaltigkeit des Inhalts dieser Nummer zwingen uns, den Artikel zurückzustellen: Gebärzwang und Gebärstreit" II. Die gleichen Gründe hatten veranlaßt, daß die Rede der Genossin Ziez nicht schon in legter Nummer erscheinen konnte.