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Politische Rundschau.
Die Gleichheit
Die Hochflut der Reaktion in Preußen und im Reich, die in letzter Zeit besonders heftig anstürmt, prallt endlich auf einen Wellenbrecher. Die Arbeiterklasse beginnt an den Gegenangriff zu denken. Dies ist die Bedeutung der Beschlüsse, die am 14. Juni von der General.. versammlung der sozialdemokratischen Wahlvereine von Groß- Berlin gefaßt worden sind; das ist vor allem die Bedeutung des Beschlusses, der die ernsthafte Wiederaufnahme des preußischen Wahlrechtstampfes ankündigt. Dieser Beschluß fordert die Sozialdemokratie auf, politische Aftionen der proletarischen Massen vorzubereiten; als schärfstes Kampfmittel des Massenangriffs wird der politische Massenstreit ins Auge gefaßt. Die erste Etappe des Wahlrechtskampfes im Jahr 1910 gipfelte und endete in eindrucksvollen Straßendemonstrationen. Die zweite Etappe, zu der der Beschluß der Groß- Berliner Organisation auffordert, sett sogleich auf einer höheren Sprosse der politischen Sturmleiter ein: der Gedanke des politischen Massenstreits hat Wurzel geschlagen. Vor vier Jahren schon war dieser Gedanke in der Kampfesstimmung der leidenschaftlich erregten und begeisterten proletarischen Vorhut aufgeblitzt. Er war damals das letzte Wort. Heute ist er das erste. Der politische Massenstreit ist im Bewußtsein und Willen der deutschen Arbeiterschaft zu einem Stampfesmittel geworden, von dem zu reden nicht mehr als müßige theoretische Spekulation gilt. Gewiß: die Berliner Beschlüsse find noch keine Taten. Aber sie sind die Sturmvögel, die bevorstehende Klassentämpfe von größter Schärfe und weitestem Umfang für Preußen- Deutschland anzeigen. Sie zeigen den Willen des Proletariats an, die jahrelange, beklemmende Kampfpause zu beenden und eine neue Reihe von Schlachten zu eröffnen. Daß der Kampfruf zu rechter Beit erschallte, beweist das helle Echo, das er im Norden wie im Süden des Reiches geweckt hat. Der sozialdemo tratische Parteitag der oberrheinischen Gebiete, die Stuttgarter Drganisation, der zweite württembergische Reichstagswahlkreis haben sich ihm sogleich angeschlossen. Aufs kräftigste aber wird seine Bebeutung unterstrichen durch die Wirkung, die er im bürgerlichen Lager ausgelöst hat. Die Reaktion sieht schon die Revolution heranziehen, und sie weiß dem dräuenden Sturm nicht anders zu begeg nen als durch den stumpfsinnigen Ruf nach neuen Strafparagraphen und nach dem Staatsanwalt. Der alte Scharfmacher v. Zedlitz rät der Regierung, die Aufforderung zum Massenstreit als„ Vorbereitung zur Revolution" durch ein neues Gesetz unter die Strafe des Hochverrats zu stellen. Die freifonservative Fraktion des preußischen Landtags hat noch kurz vor der Vertagung des Parlaments einen entsprechenden Antrag eingebracht. Und das führende Blatt des Bentrums, die Kölnische Voltszeitung", erklärt dazu, auch im Reichstag werde sich eine Mehrheit für einen solchen Antrag finden. Mit anderen Worten, das Zentrum und ein Teil der Liberalen würde dafür zu haben sein. Ein besonders feuriger Stopf der freitonservativen Gruppe hat sogar entdeckt, daß es gar keines neuen Gesezes bedürfe, um den politischen Massenstreit dem Staatsanwalt zu überantworten. Denn die Gewerbeordnung erlaube nur den unpolitischen Massenstreit, den Streit mit rein wirtschaftlichen Zielen. Stann es noch einen zwingenderen Beweis von der Kopflosigkeit und ber politischen Verständnislosigkeit der herrschenden Gesellschaft geben als die lächerliche Meinung, den Vormarsch des Proletariats durch einen Schlagbaum von Paragraphen aufhalten zu können? Das schaffende Volk kann die Dinge in ruhiger Heiterkeit an sich herantommen lassen.
Während die bürgerlichen Klassen so den heranziehenden Sturm durch Zauberformeln zu beschwören suchen, die in ihrer Waldursprüng lichkeit der Australneger würdig sind, häufen sie, unbekümmert um die hochgespannte Erregung der Arbeiterschaft, zu den alten noch neue und frechere Herausforderungen. Die Heze gegen die Gewerkschaften und die freie Jugendbewegung wird immer toller. Laut befiehlt der Militarismus den Gerichten, der Ruf nach einer Einschränkung der Unverletzlichkeit der Reichstagsabgeordneten verstummt nicht.
Der Hansabund hat die Gelegenheit seiner„ Jubiläumstagung" in Köln benützt, um mit vollen Backen in das mißtönige reaktionäre Konzert einzustimmen. Die Rede des Präsidenten Rießer schloß mit der Losung: Sammlung des Bürgertums gegen die Sozialdemokratie. Als Lohn für seine Willigkeit, mitzutun, bat sich der Hansabund aus, daß der Bürger wie der Adel zur Regierung zuzulassen sei. Wie schnell sind die Zeiten geschwunden, da Schwärmer im Hansabund die Anzeichen für eine Wiedergeburt des Liberalismus zu sehen wähnten.
Das Dreitlassenhaus Preußens hat noch kurz vor seiner Veriagung die Beweise dafür gehäuft, daß seine Beseitigung zu den bringendsten Pflichten des Tages gehört. Der Genosse Liebknecht
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wurde von dieser„ Boltsvertretung" entgegen aller parlamentarischen Gepflogenheit dem Ehrengericht der Anwälte ausgeliefert. Die besondere Ehre dieses Standes soll Liebknecht durch„ Barenbeleidigung", begangen auf dem Magdeburger Parteitag, verletzt haben. Nonservative, Zentrum und Nationalliberale reichten sich die Bruderhand zu diesem schamlosen Aft politischer Rachsucht.
Der Wahlrechtsantrag des Freisinns fiel vor der Vertagung des Landtags unter den Tisch. Allezeit furchtlos und treu, stimmte der Freisinn selbst dafür, daß die Beratung seines Antrags auf den Herbst verschoben werte. Der Antrag der Sozialdemokratie, die Wahlrechtsfrage auf die Tagesordnung der ersten Sigung nach den Ferien zu setzen, wurde von dem Haus mit dröhnendem Gelächter beantwortet.
Das preußische Herrenhaus zeigte wieder einmal sein wahres Gesicht, indem es die Streichung der Arreststrafe für Krankenkassenbeamte ablehnte. Das Abgeordnetenhaus hatte der Reform auf Drängen der sozialdemokratischen Fraktion zugestimmt.
Der Prozeß über den ostpreußischen Pferdehandel hat den Verfall der in Preußen und Deutschland regierenden Militär- und Bureaukratentaste wieder sinnenfällig enthüllt. Es tamen dabei Geschäftspraktiken des militärischen Vorsigenden der Remontekommission zutage, die der vielgerühmten„ Unantastbarkeit" der preußischen Beamtenschaft einen starken Nadenstoß versezen. Der Herr Major v. Rundstädt, der gegen drei Vorwärtsredakteure flagte, hatte zum Nachsehen der Pferdezüchter mit einer Pferdehändlerfirma geschäft liche Abmachungen getroffen, die vom fapitalistischen Gesichtspunkt gesehen gewiß aller Ehren wert sind, aber in seltsamem Widerspruch zu dem besonderen Ehrbegriff stehen, dessen„ der erste Stand im Reich" fich rühmt.
Die steigende Flutwelle der Reaktion dringt rasch und stetig vorwärts und pflanzt sich ohne Widerstand nach Mittel- und SüddeutschTand fort. In die Fußtapfen der preußischen Regierung treten gelehrig die Regierungen der fleineren und kleinsten Bundesstaaten.
Im Staate Anhalt vollbrachte die Regierung im Verein mit den bürgerlichen Parteien einen flagranten Raub des Gemeindewahlrechts. Das Wahlrecht in den Städten war dort bisher geheim und gleich gewesen. Es war nur gebunden an einen Zensus von 1050 Mt. Die Regierung legte dem Landtag einen Entwurf vor, der durch ein verwickeltes Wahlsystem vor der Masse der Habenichtse die Steuerzahler bevorrechtet, die mit über 8600 Mt. zur Gemeindeeinkommensteuer veranlagt sind, ferner die Grundbefizer und die selbständigen Gewerbetreibenden.
Ein Wahlrechtsraub geschah im Lande Reuß. Bisher galt dort gleiches Gemeindewahlrecht. Mit 16 gegen 3 Stimmen ist vom Landtag in dritter Lesung die Regierungsvorlage angenommen worden, die ein Mehrstimmenrecht einführt. Die Nationalliberalen und Konservativen waren sogar bereit gewesen, die Regierungsvorlage zuungunsten der Arbeiter noch weiter zu verschlechtern.
Im bayerischen Landtag drohte der frischgeadelte Bentrumsführer Pichler der Sozialdemokratie mit einer Anderung der Geschäftsordnung, falls sie ihre angebliche Obstruktion im Ausschuß für das Gemeindebeamtengesetz nicht aufgeben werden. Dieses Gemeindebeamtengeset ist, wie hier früher schon gezeigt wurde, ein verstecktes Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie. Sozialdemokraten sollen fortan von allen Gemeindeämtern ausgeschlossen werden. Noch mehr! Hinter die Drohung ihres Führers hat sich die ganze Zentrumsfraktion einmütig gestellt. Sie ist bereit, den Widerstand der Sozialdemokratie durch einen parlamentarischen Gewaltalt zu brechen.
Ein Ausnahmerecht gegen die Sozialdemokratie ist auch in Baden in Aussicht gestellt worden. Im liberalen" Baden! Der Minister v. Bodman proklamierte im Landtag frei und offen die Untauglichkeit von Sozialdemokraten zur Bekleidung staatlicher Amter. Die Begründung ist eines Ministerhirnes würdig:„ Geringschätzung der Monarchie" und revolutionäre Politik verschließen dem Sozialdemokraten das Tor zum Heiligtum der staatlichen Verwa tung. Und diese Weisheit hat der gleiche Minister von sich gegeben, dessen spottbilliges Wort von der großartigen Bewegung des vierten Standes" vor wenigen Jahren noch von so manchem Leichtgläubigen als Fanfare zu einer neuen demokratischen Ara nicht nur für Baden, sondern für das ganze Reich bejubelt wurde. Dieser holde Traum ist jetzt vorbei, und der jüngste Parteitag der badischen Sozialdemokratie hat das politische Kinderspielzeug der Großblocktaktik, die Utopie eines geeinten linken Flügels, stillschweigend in die Rumpelkammer geworfen.
Dem neuen Kurs in Bayern und Baden reiht sich der Dallwigfurs in Elsaß- Lothringen würdig an. Sein neuester Streich ist die Bestimmung, daß fünftighin wieder alle Rekruten aus ElsaßLothringen außerhalb des Landes zu dienen haben. Die Justiz folgt