Nr. 21

Die Gleichheit

willig hinterbrein. Ein Redakteur unseres Mülhauser Parteiblattes ist zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil er die Ge waltalte der Polizei beim vorjährigen Bauarbeiterstreit mit ge­ziemender Schärfe brandmarkte. Die Verhandlung endete mit der moralischen Niederlage der Mülhauser Polizeiwirtschaft.

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In Österreich   hat die vom Imperialismus zur Siedehike entflammte Nationalitätenheze blutige Opfer gefordert. Bei einem Besuch in Serajewo ist der Thronfolger nebst seiner Gemahlin er­schossen worden, nachdem ein vorausgegangenes Bombenattentat außer anderen Personen auch Offiziere seines Gefolges verwundet hatte. Es sind unreife serbische Burschen, die aus Belgrad   die An­regungen und Mittel empfingen, den Feind ihres Volkes" zu ber­nichten, Letzten Endes ist es jedoch die verbrecherische Balkanpolitik der europäischen   Großstaaten, ist es namentlich die Balkanpolitik Osterreichs   selbst, die die Verantwortung für das schauerliche Ver brechen trägt, und die Pistole des Mörders dürfte ohne daß dieser es wußte von dem russischen   Rubel ihr Ziel erhalten haben. Der Thronfolger galt allgemein als der höchste und eifrigste Vertreter der flerifal- imperialistischen schwarz- gelben Kriegs- und Eroberungspartei in Österreich  . Das kann man nicht vergessen, auch wenn man alles menschliche Mitgefühl für das tragische Ge schick empfindet, das den Erzherzog und seine Gemahlin und rück­wirkend den greisen Franz Josef getroffen hat. Die nächste Folge des Attentats wird eine Steigerung und Verbitterung des Nationali­tätenhasses in Österreich   und auf dem Balkan   sein und eine Ver­schärfung der weltpolitischen Situation in diesem Wetterwinkel. Das blutige Zwischenspiel mit seinem Drum und Dran ist eine glänzende Rechtfertigung der Haltung, die die österreichische So­zialdemokratie zu den imperialistischen und nationalen Wirren ein­genommen hat.

Die bürgerliche Justiz Osterreichs   hat dem Fall Keiling einen neuen Aft offensichtlichster Klassenjustiz an die Seite gestellt. Das Geschworenengericht in Graz hat einen Streifbrecher freige­sprochen, der selbst geständig war, einen wohlüberlegten Mord­anschlag auf einen Streilleiter begangen zu haben. Die Arbeiter von Graz und Umgebung beantworteten diese freche Herausforde rung durch einen umfassenden Proteststreik.

In England ist die Milderung der Homerulevorlage im Oberhaus eingebracht worden. Die irischen Verteidiger der Selbst­regierung rüsten jetzt ihre Anhänger ebenso mit Waffen aus, wie es die Gegner von Homerule in Ulster   tun. Innerhalb der liberalen Regierungspartei hat eine erfolgreiche Rebellion der großen Kapi­talisten gegen das Budget des Schatzkanzlers Lloyd George   statt­gefunden. Im Namen des heiligen Profits demonstrierten sie dro­hend gegen die Regierung. Das liberale Kapital gegen das liberale Kabinett! Der Erfolg ließ nicht auf sich warten. Es werden die Zuschüsse gestrichen, die das Budget zur Erleichterung der Kultur­aufgaben der Gemeinden enthielt, unter anderem auch für die Speisung der Schulfinder. Dafür konnte die Einkommensteuer der höchsten Steuerstufen herabgesetzt werden. Die Arbeiterfraktion im Parlament forderte die Herabsetzung der indirekten Steuern. Bei der Abstimmung enthielt sie sich der Stimme. Hätte sie gegen die Regierung gestimmt, so wäre diese wahrscheinlich gefallen.

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Der Kampf um die dreijährige Dienstzeit in Frankreich   hat mit dem Sieg des Militarismus und dem Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie geendet. Der Sturz des reaktionären Ministeriums Ribot war wohl ein augenblicklicher Sieg der radikalen Partei, ihm folgte aber auf dem Fuße die Niederlage des radikalen Programms. Die Partei, die sich auf dieses Programm an dem Kongreß zu Bau geeinigt hatte, ist im Innern erschüt­tert. Ihre Auflösung kann nur noch eine Frage der Zeit sein. Am 16. Juni erhielt das zweite Ministerium Viviani von der Kammer ein Vertrauensvotum, das in Wirklichkeit ein Votum für die drei­jährige Dienstzeit war. Viviani verpflichtete sich zur genauen und lohalen Durchführung des Dreijahrsgesetzes" bis ergänzende Gefeße zur militärischen Ausbildung der Jugend und zur Reor­ganisation der Reserven geschaffen seien. So ist die Herabsehung der Dienstzeit, die Forderung unserer französischen Freunde, auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben worden. Die Radikalen haben bei der entscheidenden Abstimmung völlig versagt. Noch einen Tag vorher hatten sie feierlich ihr Programm von Bau beschworen, das die sofortige Rückkehr zur zweijährigen Dienstzeit verlangt. Am Tage der Abstimmung selbst zersplitterte die Partei; die über­wältigende Mehrheit( 142) verriet ihr Programm, und nur ganze 18 Mann stimmten zusammen mit der Sozialdemokratie gegen die dreijährige Dienstzeit. Für das radikale Ministerium der drei­jährigen Dienstzeit stimmten noch die Beutepolitifer Briandscher Färbung, und die rechten Parteien gaben ihm ihre Unterstübung burch Stimmenthaltung. Der Präsident der Republik hat zwar nicht

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das Ministerium seines Vertrauens, aber er hat, was mehr ist: er hat sein Programm zum Siege geführt. Die bürgerliche Demo­tratie Frankreichs   ist in ihrer überwältigenden Mehrheit vor dem Militarismus zu Kreuze gekrochen. Ein Beweis mehr dafür, was die Friedensschwüre ihrer Helden auf Verständigungskonferenzen wert sind. Die Lasten der Rüstung sollen wieder auf die Schultern der breiten besitlosen Massen abgewälzt werden. Die Regierung schlägt zunächst eine Anleihe von 800 Millionen Franken in 81/ prozentigen Renten vor. Die Zinsen werden die Volksmassen aufzubringen haben. Die Sozialdemokratie verlangte, daß die Kosten durch einen Wehrbeitrag nach deutschem Muster gedeckt wer­den sollten. Kurzerhand lehnte die Kammer diesen Antrag ab. Die Summen, die der Militarismus verschlingt, werden erspart an den Gehältern der unteren Beamten. So schlug der Senat die Auf­besserung der färglich besoldeten Bostbeamten um 100 Franken jährlich ab. Die Postbeamten in Paris   antworteten durch einen kurzen und eindrucksvollen passiven Widerstand.

Die Klaffenjustiz waltet in Belgien   ihres Amtes. Die Führer und eine große Anzahl Mitglieder des Verbandes der Seeleute zu Antwerpen   wurden unter der Anklage vor Gericht gestellt, sie hätten im Streit der Seeleute 1911 und 1912 die Gelder der Or­ganisation zu erpresserischen Zweden gegen die Schiffsreeder und Gelben verwandt. Drei Führer des Verbandes wurden zu 5, 4 und 2 Monaten Gefängnis, 50 Mitglieder zusammen zu 300 Tagen Gefängnis und 1000 Franken Geldstrafe verurteilt. Die Gewerk. schaftskommission Belgiens   fordert die Arbeiterschaft des Landes zu einer umfassenden Protestaktion auf gegen eine Gesetzesbestim mung, die ein solches Schandurteil ermöglicht hat.

Die Regierungsgewalt in Italien   hat nach dem Abbruch des Generalstreits ihren Mut zurücgefunden. Sie rächt sich jetzt für die ausgestandene Furcht, indem sie den Staatsanwalt und die Polizei auf die Arbeiter losläßt. Die Gemeindewahlen standen unter dem Eindruck des Generalstreifs. Sie brachten der sozialdemo tratischen Partei einen glänzenden Sieg in Mailand  , aber starte Niederlagen in Rom  , Genua   und anderen Städten. In Mailand  eroberte die Sozialdemokratie mit 31 000 bis 33 000 Stimmen die Mehrheit in der Stadtverwaltung. In Rom   hingegen siegten die flerifalen Parteien mit 31 000 bis 33 000 Stimmen. Der demo­tratische Block blieb mit 25 000 bis 28 000 Stimmen in der Minder­heit, und die Sozialdemokratie brachte es nur auf 2600 bis 3000 Stimmen. Auf die Masse der Krämer und Kleinbürger der in­dustriearmen Fremdenstadt Rom hat der Generalstreik abschreckend gewirkt, während er in der Industriestadt Mailand   das industrielle Proletariat aufrüttelte. A. Th.

Gewerkschaftliche Rundschau.

Der Kampf gegen die Koalitionsfreiheit der Arbeiter­Klasse hat in Breslau   eine besonders scharfe Beleuchtung er fahren. Dort hatte vor einigen Wochen das Amtsgericht den Transportarbeiterverband für eine politische Organi sation erklärt, weil er gelegentlich auf die Gesetzgebung einzu­wirken suche. Nun hatte das Landgericht über die eingelegte Be­rufung zu verhandeln. Der Verteidiger der freien Gewerkschaft führte eine ganze Liste bürgerlicher Vereine an, die für politisch erklärt werden müßten, wenn die gelegentliche Einwirkung auf die Gesetzgebung dafür entscheidend sei. So der Deutsche Richterbund  , denn er hat sich auf seiner letzten Tagung mit der Reform der Zivilprozeßordnung beschäftigt, die vom Staate verlangt wird; der Stenographenbund, denn er wünscht die gesetzliche Einführung der Einheitsstenographie und propagiert dieses Ziel; die Tierschutzvereine, fie bearbeiten die Regie rung für den Erlaß gesetzlicher Bestimmungen zum Schuße der Vögel; der Verein zur Bekämpfung der Geschlecht 3- frankheiten, denn er rufe die Behörden zur Bekämpfung der großen Volksübel auf. Das Gericht war nicht zu überzeugen. Der Jude mußte verbrannt werden. Es blieb dabei, daß der Transport­arbeiterverband ein politischer Verein sei. Der Krug solcher Recht­sprechung wird solange zum Brunnen gehen, bis das Proletariat ihn zerbricht.

In dem Kampfe der Arbeiterschaft mit dem Unternehmertum schafft die innige kapitalistische Liebe zum Geldbeutel zuweilen fleine Zwischenspiele, die eines komischen Anstrichs nicht entbehren. Es ist eine alte Sache, daß die Unternehmer besonders für die Ar­beiter schwärmen, die an ihren Brüdern Verrat üben, und daß die Behörden der edlen Gilde der Streifbrecher gerne ausgiebigen Schutz angedeihen lassen. Über die Notwendigkeit solchen Schutzes herrscht bei beiden Arlen der Ordnungsstüßen" vollkommene Ein­mütigkeit. Allein es kann geschehen, daß die edlen Seelen einander