370 Die Gleichheit Nr. 24 selbst aktiv werden zu lassen. Der unbezähmbare Wille, Taten zu sehen, zwang ihn stets aufs neue, alte Auffassungen zu uberprüfen, durch neue Erkenntnisse zu revidieren, und führte ihn in Arbeit und Kampf immer näher an denorthodoxen" Flügel der französischen   Sozialisten heran. Sollte das Prole­tariat Frankreichs   die in ihm ruhende Macht zur Geltung bringen, so bedurste es der Geschlossenheit, zu deren Voraus­setzungen auch die Überwindung des Fraktionshaders, die Einigung der Sozialisten gehörte. Dieser Zusammenhang der Dinge und Jaures  ' Bedeutung als Kämpfer und Führer traten zuerst bei der Dreyfus-Affäre voll ins Licht. Der Triumph der Wahrheit und Gerechtigkeit in diesem politischen Handel war ihm eine Lebensbedingung für die Republik  , die Republik   ihrerseits eine Notwendigkeit für den Aufstieg, die Kraftentfaltung des werktätigen Volkes. Daher setzte Jaurös für die Republik  , gegen den militaristisch­klerikalen Verschwörerklüngel entschlossen die ganze politische Macht des stanzösischen Proletariats ein, trug aber gleichzeitig im Gewühle des Fraktionsstreits mit zäher Leidenschaft die Losung der sozialistischen   Einigung voran. Diese Einigung konnte nur Wirklichkeit werden, Gestalt und Leben gewinnen, weil Jaures   selbst sich mit wundervoller Selbstzucht und ohne persönliche Empfindlichkeit dem Beschluß des Internationalen Kongresses zu Amsterdam   fügte, der gegen seine Auffassung entschied. Die Einigung mit den Brüdern war ihm um den Preis dieser Niederlage nicht zu teuer erkauft. Und wahrhaftig, er hat dadurch nichts verloren, Wohl aber viel gewonnen. Als ein Führer der geeinten sozialistischen  Partei Frankreichs   wurde Jaures   ein starker Machtfaktor im politischen Leben seines Landes, insbesondere aber im Parla­ment, wo er als Talent und Charakter die leitenden Männer der bürgerlichen Parteien um Haupteslänge überragte, ein Saul unter den Philistern, von der Gegner Furcht, Haß und Bewunderung uniringt. Kein wichtiges Ereignis, keine Krise, die an dem Staatsgefüge Frankreichs   rüttelte, ohne daß Mi­nister und bürgerliclie Politiker fragen: wie werden sich die Sozialisten entscheiden, und wie wird Jaures   ihre Stellung­nahme begründen? Seine funkelnde Beweisführung und der stürmische Herzschlag seiner Beredsamkeit wirkten weit über das Parlament hinaus, die Gewissen wachpeitschend und die Massen sammelnd. Auch in der sozialistischen Internationale übte Jaurbs' mächtige Persönlichkeit einen weitreichenden, oft entscheidenden Einfluß aus. Die Aktionsfähigkeit des werktätigen Volkes in allen Ländern zu steigern durch die Vereinigung aller Bewe­gungen im Proletariat zu einem gewaltigen Strom: das war hier seine stete Sorge. Für diesen Meister des Wortes blieb die Tat der Anfang und das Ende. So finden wir Jaures  unter den Ersten und Unermüdlichsten der neuen Internatio­nale, die das Proletariat zu dem austiefen, was ihm schon Marxens Jnauguraladresse der Internationalen Arbeiter­ assoziation   gepredigt hatte. Nämlich die Auslandspolitik der Staaten nicht passiv zuschauend gehen zu lassen, wie es dem Himmel gefällt, vielmehr darauf bedacht zu sein, sie in seinem Interesse, also zum Wohle der großen Menschheitsgemeinschaft zu lenken. Jaures   betonte immer nachdrücklicher, leidenschaftlicher, daß es eine der vornehmsten geschichtlichen Aufgaben der Ar­beiter aller kapitalistischen   Länder fei, die Auslandspolitik zu einer Friedens- und Kulturpolitik zu gestalten. Was verschlug es ihm, daß ihn die Gegner alsvaterlandslosen Gesellen" schmähten und verfolgten? Mit der Kraft seines Talents und dem Ungestüm seines Temperaments warf er sich den Gelüsten nach einem Revanchestieg entgegen, nahm er den Kampf gegen das Wettrüsten, gegen die Rückkehr zur dreijährigen Dienst­zeit auf. Seine glänzende Feder und seine machtvolle Stimme wurden nicht müde, in Hinblick auf das kulturelle Mensch­heitserbe die Notwendigkeit des Friedens und der Völkerver­brüderung nachzuweisen. Im Mittelpunkt seines gewaltigen Friedenswerkes stand aber ein beherrschender Gedanke. Die französische Republik  aus dem Bündnis mit dem russischen Zarismus zu lösen, Frankreich  , Teutschland und England in einem Friedens- und Freundjchaftsbund zusamnienzuschließen, der als Bahnbrecher einer steiheillichen Entwicklung und höheren Kultur auf dem ganzen Erdball wirke. Seiner ganzen Auffassung entsprechend, pflanzte Jaures   am Grabe noch die Hoffnung auf, ein demo­statisches Bürgertum müsse sich in Selbstbesinnung mit dem Proletariat vereint für die Bewahrung des Friedens einsetzen. Wie gläubig war nicht sein Vertrauen auf den kriegbannen­den Einfluß der Verständigungskonferenzen deutscher und französischer Parlamentarier! Wenn im stanzösischen Volke jahrelang der Gedanke an einen Revanchekrieg langsam zurück­gedämmt worden und das Verständnis für eine Annäherung an Deutschland   gewachsen ist: wenn die Regierung der Re­ publik   mit einem gewissen Zögern den Krieg des bluttriefen­den Zarisnius zur unheilvollen Sache Frankreichs   gemacht hat, weil die breitesten Massen keine Begeisterung dafür zeig­ten und die Besten und Entschlossensten sich dem Beginnen entgegenstemmten: so hat niemand mehr als Jaures für diesen Geist des Friedens und der Völkerverbrüderung getan. Und nie ist er ein besserer Franzose gewesen, nie hat er in glühen­der Vaterlandsliebe seiner Heimat einen größeren Dienst er­wiesen, denn da er im aufrechten Bekenncrmut sich als inter­nationaler Sozialist bis zum letzten Hauch für die Völkerver- briiderung eingesetzt hat. Bis zum letzten Hauch, im buchstäblichen Sinne des Wortes! Jaures  ' letztes Leben und Weben hat sich in den Anstrengungen verzehrt, den Frieden zu schützen. Das war das erhabene Ziel, das ihn nach Brüssel   zur Sitzung des Internationalen Sozia­listischen Bureaus führte, das ihn in der vieltausendköpfigen Demonstrationsversammlung der Arbeiter dort wie mit feu­rigen Zungen von der brüderlichen Solidarität des Prole­tariats reden ließ und ihm den SHvur auf die Lippen legte, diesem Ideal treu bis in den Tod zu dienen. Wenn Zeitungs- nachrichten zutreffen, so war dem großen Friedens- und Frei- heitsapoftel schon damals die mörderische Kugel zugedacht. In der kurzen Lebensstist. die ihm der Zufall noch vergönnte, hat er mit der ganzen Kraft seines Wesens darum gerungen, sein Volk von dem Abgrund des Weltkriegs zurückzureißen. Er ist als das erste Opfer der ungeheuren Katastrophe gefallen, die die Völker der europäischen   Staaten gegeneinander steibt. Brennend steigt der Schmerz über den Tod des großen Kämpfers m der Seele einpor. Aber in diesen entsetzensvollen Stunden, wo des Weltkriegs eiserne Würfel über die Völker rollen, vermögen die Gedanken nicht an einem Einzelschicksal zu hasten, und wäre es das eines Jaures. Unsere Trauer, daß Mörderhand dies reiche, schöpferische Leben vorzeitig aus­löschte, flieht fast beschämt vor dem größeren Jammer, daß im blutigen Ringen der Nationen miteinander materielle und geisstge Werte vernichtet und Ideale zertreten werden, die un­gezählte Geschlechter der Menschheit in Arbeit und Sehnsucht international geschaffen haben. Jaurös' Los ist beneidenswert. In ihm hat sich erfüllt, wes­halb Goethe den griechischen Dichter Anakreon   glücklich pries. Der geniale Sozialistenführer hat Frühling, Sommer und Herbst des Daseins genossen: in strotzender Kraft, auf der Höhe seines Schaffens wurde er von hinnen genominen. Ihm blieb der staurige Winter des Sichselbstüberlebens erspart, da die müde Greisenhaftigkeit nur zu oft an den besten Taten der Mannheit abbröckelt. Und vor Tragischerem nochhat ihn endlich der Hügel geschützt". Jaures   ist treu sich selbst und seiner Überzeugung im Kampfe gegen die Kräfte des Kapita­lismus gefallen, die die Staaten zum Ringen um Welthcrr- schast zwingen.. Der Blutdampf der Schlachtfelder und der Rauch einge­äscherter Wohnstätten mögen für den Augenblick den strahlen­den Glanz dieses Lebenswerkes verschleiern, mögen den Schein erwecken, als sei es für immer verklungen und versunken. Wir hören es anders aus dem Raunen und Rauschen der Geschichte des ewig flutenden Lebens. Wenn die Völker erst wieder das Schwert mit dem Pflug vertauscht haben werden, wenn aufs