374
Die Gleichheit
darf nicht Gefühlswerte und Erkenntnisse verschlingen, die das Volk der Arbeit aus dumpfigen Niederungen zur lichten Höhe emporführen. Denn keine Liebes- und Hilfstätigkeit rührt an die Grundfesten der kapitalistischen Wirtschaft.
Der Krieg hat unsere politischen und gewerkschaftlichen Organisationen gelichtet, hat die Arbeit unserer wichtigsten Organe lahmgelegt oder wenigstens erheblich eingeschränkt. Daß die gelockerten Fäden des Zusammenhaltens und Zusammenwirfens nicht reißen, dafür die ganze Kraft aufzubieten, ist eine selbstverständliche Ehrenpflicht der Genossinnen, die Besieglung ihrer Gleichberechtigung in der modernen Arbeiterbewegung. Wir sagen Erhaltung der Organisation und denken dabei in erster Linie an den Geist, der die Organisation erfüllen und von ihr auf die Unorganisierten ausstrahlen soll. Aus der blutigen Aussaat des Weltkriegs kann dem Proletariat nur eine Ernte reifen, wenn dieser Geist unverfälscht und stark bleibt, unbeirrt durch das Brüllen der Kanonen und die chauvinistischen Weisen eines unechten Patriotismus, dem das beste Kulturgut des deutschen Volkes fremd geblieben ist. In diesem Zusammenhang gewinnt es besondere Bedeutung, daß die Genossinnen troß Armut und anderer Hindernisse raftlos wie je für die Verbreitung der sozialdemokratischen Presse sorgen, die ihrerseits über Kampfesgewirr und Trümmerhaufen das Banner des internationalen Sozialismus hoch und unbefleckt emporflattern lassen muß.
Des internationalen Sozialismus! Klingt es nicht wie blutiger Hohn? In den Tagen, wo in Wien Männer und Frauen als Beauftragte der Proletarier aller Länder den großen Friedens- und Freiheitsbund der Völker befestigen sollten, verröcheln Zehntausende Söhne des Volkes auf dem Schlacht feld, seufzen weitere Zehntausende in Lazaretten, und es ist Bruderhand gewesen, die den Tod entsendet und Wunden geschlagen hat. Hunderttausende, ja Millionen, ganz gleich, welchen Landes Uniform sie tragen, erklären mit zusammengebissenen Zähnen:„ Wir wollen nicht, wir müssen. Das Recht und die Unabhängigkeit unseres Vaterlandes sind bedroht." Der Krieg hat seine eigene eiserne Logik, seine eigenen Geseze und Maße. Er schafft eine Atmosphäre, in der heroische Kampfes und Bürgertugenden gedeihen, aber ob es die Kämpfenden wollen oder nicht, lockt er recht oft auch die Bestie im Menschen hervor, der sein Leben von Tod und Verderben umlauert weiß, entfesselt er wilde Triebe, die als überlebjel der Vergangenheit unserer Art unter der Schwelle des Bewußtjeins liegen. ,, Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, wenn Mensch dem Menschen gegenübersteht."
Kriegsbriefe erweisen die Abstumpfung der Sinne und Seele gegen die Grausenhaftigkeit der Schlachten, eine Abstumpfung, aus der langsam, aber unvermeidlich bei vielen Brutalität, Verrohung herauswächst. Unter Berufung auf Recht und Vaterlandsliebe greift das Morden über die kriegführenden Heere hinaus. Die Zeitungen melden die schauderhaftesten Greuel, deren sich Bürger jenseits der deutschen Grenzen bei der Verteidigung des heimischen Bodens gegen deutsche Soldaten, ja sogar gegen Verwundete und ihre Samariter meuchlings schuldig gemacht haben sollen. Selbst wenn die Schilderungen solcher Untaten erheblich übertrieben sind und das glauben wir-, bleibt der Barbarei mehr als genug übrig. Doch hören wir richtig? Wesensgleiche Barbarei soll den Frevel sühnen". So flingt es aus einem Teil der bürgerlichen Presse. Für jeden tückischen Schuß eines Bürgers ein eingeäscherter Ort. Die ,, Berliner Neuesten Nachrichten" gehen noch weiter. Sie fordern von der Kriegsleitung:„ die Ausräumung aller besetzten Landstriche von allen Einwohnern.... Alles, was in Zivilkleidung sichtbar wird, 24 Stunden nach Erlaß des Ausweisungsbefehls in dem unter Bann befindlichen Landstrich, gilt als Spion und wird ohne weiteres erschossen." Mit der Predigt systematischer Barbarei geht selbstgefällige chauvinistische überhebung Hand in Hand, ein Schmähen fremder Völker, um deren Bundesgenossenschaft Deutschland noch gestern warb, eine Herabsetzung der Verdienste, die sie um den Aufstieg der Menschheit zu Wissen,
Nr. 25
Wohlstand und Gefittung haben. Es ist, als wären alle Maße zerbrochen, an denen man Recht und Gerechtigkeit im Leben der Nationen zu messen pflegte, alle Gewichte verfälscht, mit denen der Wert der nationalen Dinge abgeschätzt wurde. Weit, weit scheint das welt- und zukunftumspannende Jdeal der proletarischen Solidarität, der Völkerverbrüderung zurückgeworfen. Wäre es möglich, daß der Krieg nicht bloß Menschenleben auslöscht, sondern auch Menschheitsziele?
Nein und abermals nein! Die Proletarier werden Deutsch land vor solcher Schmach bewahren, und während der Krieg wütet, wollen wir sozialistischen Frauen die treuesten Hüterinnen des Gedankens internationaler Brüderlichkeit sein. Müssen die Männer draußen kämpfen, um Deutschlands nationale Selbständigkeit zu bewahren, so soll es daheim unsere heiligste Aufgabe sein, darüber zu wachen, daß der brausende Strom eines unechten Patriotismus nicht hinwegreißt, was auf dem Boden dieser Selbständigkeit an edler, vorurteilsloser Menschlichkeit, an weltbürgerlicher Gesinnung und Gesittung, an sozialistischem Menschheitsumfassen emporgesproẞt ist und höherer, fruchtreicher Entfaltung harrt.
Lassen wir nicht den Sinn der werktätigen Massen durch die chauvinistischen Pauken für die nackte Tatsache übertäuben, daß weltwirtschaftliche und weltpolitische Entwicklungen Ursachen des schicksalschweren Krieges sind, nicht aber häßliche und verächtliche persönliche Eigenschaften der Völker, mit denen Deutschland sich messen muß. Haben wir den Mut, den Schmä hungen gegen das„ perfide Albion", die„ verkommenen Franzofen", die„ barbarischen Russen" entgegenzustellen, wie reich, wie unaustilgbar der Anteil ist, den diese Völker zur Menschheitsentwicklung beigesteuert haben, wie befruchtend er auch auf das Emporblühen deutscher Kultur gewirkt hat. Wer kann sich die klassische Literatur und Philosophie unseres Landes denken ohne das bahnbrechende Werk der englischen Aufklärer, der französischen Enzyklopädisten, der großen französischen Revolution? Die moderne Weltliteratur trägt die unverwischbaren Spuren des russischen Einflusses. Was die Deutschen selbst in die internationale Schazkammer der Kultur getan haben, das ist so viel, so unvergänglich, daß es allein schon die Pflicht in sich begreift, gerecht und wahrhaftig in der Beurteilung anderer Nationen zu sein. Mahnen wir daran, daß alle Völker das gleiche Recht auf nationale Unabhängigkeit und Selbständigkeit haben, das die Deutschen kämpfend durchsetzen.
Erheben wir laut und sonder Furcht unsere Stimme für den Frieden, sobald unser Volk dieses Ziel erreicht hat, für einen Frieden, der uns die Nachbarnationen verbindet, statt durch gewalttätige Eroberungspolitik einen Stachel neuen Würgens zu schaffen. Seßen wir uns bis zum letzten Hauch dafür ein, daß der Donner der Geschüße und das Geschrei der überpatrioten nicht die Stimme der Menschlichkeit und der proletarischen Brüderlichkeit übertönt. Unter den todbringenden und todbereiten Schlachthaufen hüben und drüben befinden sich Proletarier, die sich brüderlich die Hände reichen möchten, und die nur die bitterste Notwendigkeit zwingt, sich als Feinde aufeinanderzustürzen. Könnten wir, könnten die Unsrigen draußen das je vergessen? Leuchtet nicht über dem Grauen der furchtbaren Stunde die Gewißheit, daß die unsterbliche Sehnsucht der Armen und Kleinen nach freiem Menschentum die Völker wieder in einem Jdeal und einem Streben vereinigen muß?
Wir sozialistischen Frauen vernehmen die Stimmen, die leise, schmerzlich und doch erhebend in dieser Zeit von Blut und Eisen, von der Zukunft und für die Zukunft reden. Seien wir ihre Dolmetscher für unsere Kinder! Behüten wir sie vor dem schellenlauten Klang von Auffassungen, wie sie heute die Straßen erfüllen, und in denen ein billiger Rassenhochmut den Menschen erschlägt. In unseren Kindern muß uns die Bürgschaft dafür heranwachsen, daß dieser furchtbarste aller Kriege das legte gewalttätige Völkerringen ist. Das Blut der Verwundeten und Gefallenen darf nicht zum Strom werden, der trennt, was der Gegenwart Not und der Zukunft Hoffnung eint. Es muß ein Kitt sein, der für alle Zeiten bindet.