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Die Gleichheit
Die ganz natürliche Folge war das Bestreben der unter diesem Zustand notleidenden Schichten, sich soviel wie möglich selbst zu helfen. Und Regierung und Behörden konnten nicht umhin, die Be= wegung zu fördern, denn Wohnungselend ist am Ende auch eine allgemeine soziale Gefahr. Auf dem Verbandstag wurden nun über die Entwicklung der Genossenschaften folgende Mitteilungen gemacht: Anfang 1914 bestanden im Reiche 1342 und in Sachsen 142 Baugenossenschaften, von denen 113 dem Verband angehörten; außerdem umfaßt er noch drei Baugesellschaften, eine Bauaktiengesellschaft und einen Verein, insgesamt also 118 Verbandsmitglieder. Der Wert der Geschäftsanteile betrug am 1. Januar 1914 über 9 Millionen, wovon 73 Millionen auf die Verbandsgenossenschaften entfallen. Diesen gehörten damals 26 000 Genossenschafter mit über 36 000 Anteilen an, zu denen noch eine Haftsumme von 8% Millionen Mark kommt. Im ganzen hatten die Verbandsmitglieder Anfang 1914 einen bedeutenden Geschäftsumfang zu verzeichnen. Erbaut wurden bis dahin 2430 Häuser mit 10 407 Wohnungen. 1257 Ein- und Zweifamilienhäuser mit 1575 Wohnungen ( 15 Prozent aller hergestellten Wohnungen) wurden errichtet, ein Zeichen, daß sich der Flachbau im sächsischen Kleinwohnungsbau einbürgert. Der Krieg hat auch die Tätigkeit der Baugenossenschaften ungünstig beeinflußt. Bedeutet sie zunächst auch nur einen Tropfen auf den heißen Stein der Wohnungsnot, so liegen ihre günstigen Wirkungen doch schon klar zutage.
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Notizenteil. Burgfrieden.
H. F.
Die Strafvollstreckung gegen Genoffin Luxemburg war bekanntlich wegen Krankheit der Verurteilten bis zum 31. März aufgeschoben worden. Nun ist Genossin Luxemburg am 18. Februar plöglich festgenommen und zur Strafverbüßung in das Weibergefängnis Barnimstraße" eingeliefert worden.
Aus dem preußischen Abgeordnetenhaus. Unter der überschrift: Mundtotmachung" schreibt der„ Vorwärts" vont 6. März 1915: An hinter uns liegende Zeiten erinnerte die Donnerstagsigung des Abgeordnetenhause 3. Auf der Tagesordnung stand der Etat der Justizverwaltung, zu dem sich unter anderen Genosse Liebknecht als Redner gemeldet hatte. Die bürgerlichen Parteien hatten sich dahin verständigt, Liebknecht auf keinen Fall zu Worte kommen zu lassen. Um aber jeden Schein zu vermeiden, als ob es sich um ein Vorgehen gegen die Sozialdemokratie handle, ließen sich vor ihm noch einige an= dere Redner der verschiedensten Fraktionen in die Liste eintragen; auch ihnen wurde durch den konservativen Schlußantrag das Wort abgeschnitten. Der Unterschied ist nur der, daß sie damit einverstanden waren, so daß ihnen in Wirklichkeit kein Unrecht geschehen ist, während Genosse Liebknecht als einziger von allen die ernste Absicht hatte, zu reden. Es blieb ihm nur die Möglichkeit, in einer Bemerkung zur Geschäftsordnung festzustellen, daß er verhindert wurde, die Behandlung der Genossin Rosa Lugem= burg vor dem Lande zu kritisieren."
Bei der Erledigung des Eisenbahnetats am Freitag den 5. März setzte sich Genosse Leinert mit dem Landwirtschaftsminister auseinander, der neulich zwischen„ nationalen" und anderen Organisationen unterschieden hatte. Der Minister antwortete laut Vorwärts": Die Frage der Organisations= freiheit eigne sich nicht zur Erörterung unter dem„ Burgfrieden".
Der freifonservative Herr v. Zedlik schreibt in der Berliner Post ", die Rede Liebknechts zum Etat des Innern im preußischen Abgeordnetenhause verrate Mangel an Vaterlandsliebe und entziehe daher der Forde= rung gleicher Behandlung der Sozialdemo= tratie durchaus den Boden". Liebknecht habe den Burgfrieden aufgekündigt und auch für die Kriegszeit den Klaffenfampf gefordert. Wenn die Demokratisierung unserer Einrichtungen, meint Herr v. Bedlib, so vaterländische Gesinnung zur Herrschaft bringe wie die Dr. Liebknechts, so sei es die elementarste patriotische Pflicht, nicht nur jede Demokratisie= rung zu verhindern, sondern auch die Abwehrmittel der Staatsgewalt noch zu stärken". Es liege also im dringendsten Interesse der Partei, Liebknecht so nachdrücklich wie möglich abzuschütteln. Köstlich ist die Unverfrorenheit, mit der hier ein Außenstehender der Sozialdemokratie seine Ratschläge ans Herz legt. Be
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zeichnend ist die Auffassung: Demokratie sei ein Lohn für Wohlverhalten. Darüber, daß Herr v. Zedlig einen Mann öffentlich. beschimpft, der infolge seines Militärverhältnisses nicht antworten darf, darüber überlassen wir das Urteil jedem anständig Denkenden. Die Vossische Zeitung" ist eifrig bemüht, die Gegensäte in der Sozialdemokratie nach Kräften zu erweitern. Haenisch gegen Liebknecht" betitelt sie einen Artikel. Die Rede Haenischs, so äußert sie sich, sei nicht nur ein Gegenstück zu der Liebknechts, sondern jedenfalls auch als Gegenstück dazu ge= meint gewesen. Wenn Haenisch betont habe, jetzt sei nicht die Möglichkeit vorhanden, innere Kämpfe miteinander auszufechten, ..so war's wie eine direkte Antwort auf die vorgestern von Lieb knecht befolgte Methode. Wenn er weiter erklärte, daß, wer es grundsätzlich ablehne, zuzulernen und gegebenenfalls umzulernen, damit nicht immer Charakterstärke, sondern Mangel an Intelligenz beweise, so habe diese Bemerkung ein ganz bestimmtes Ziel". Auch die„ Berliner Allgemeine Beitung" spricht von„ starken polemischen Ausfällen Haenischs" gegen seinen am Dienstag aufgetretenen Parteifreund. Natürlich sind die Besprechungen der rechtsstehenden Presse vollends auf diesen Ton gestimmt.
Eine Verschärfung des Kriegszustandes hat das stellvertretende Generalkommando in Stettin verfügt. Alle Ver= sammlungen, mit Ausnahme der rein geselligen oder kirchlichen, bedürfen fortan der Genehmigung. Die Polizei hat darauf zu achten, daß in den Versammlungen über die Volksernäh rung feine Kritik an den Regierungsmaßnahmen geübt wird und daß nicht irgendwelche Forderungen aufge= stellt werden. Widrigenfalls sind die Versammlungen sofort aufzulösen.
Zeitungsverbote und verschärfte Zensur. Auf Befehl des stellvertretenden Generalkommandos des vierten Armeekorps wurde die„ Magdeburger Volksstimme" auf drei Tage verboten. In ihrer Nr. 49 vom 27. Februar sollen„ beleidigende Angriffe gegen Staatsbehörden" enthalten gewesen sein.
Dasselbe Schicksal ereilte das Elberfelder Parteiorgan, die „ Freie Presse". Wegen seiner Kritik der Bundesratsbeschlüsse zur Erhöhung der Höchstpreise für Startoffeln war das Blatt bereits einige Tage früher unter Präventivzenfur gestellt worden.
Auf die Dauer von acht Tagen wurde die Freie Volkszeitung" in Göppingen unter Präventivzensur gestellt. Grund: Sie hatte an Lohnverhältnissen in Textilbetrieben Kritik geübt, die mit Militärlieferungen beschäftigt sind.
Vom ,, Volksblatt" zum ,, Generalanzeiger." An die Stelle unferes endgültig verbotenen tapferen„ Gothaer Voltsblattes" tritt nun ein„ Generalanzeiger für das Herzogtum Gotha". In dem Aufruf des Verlags wird gesagt, es solle ein nach allen Seiten hin unabhängiges, aber unparteiisches Ersazblatt herausgegeben werden. Die Partei kann auf die innere Entwicklung dieses„ Generalanzeigers" gespannt sein.
Frauenarbeit auf dem Gebiet der Industrie,
des Handels- und Verkehrswesens. Auch eine Errungenschaft des Kriegs. In Essen und Düssel= dorf sind neuerdings, wie noch in manch anderen Städten, Frauen als Schaffner bei den Straßenbahnen eingestellt worden. In Essen war diese Beschäftigung zuerst den Frauen der zum Heeresdienst eingezogenen Straßenbahnangestellten zugedacht, aber sie meldeten sich sehr spärlich die Straßenbahnverwaltung be= hauptet, weil sie die Angehörigen der Krieger besser unterstütze, als anderen Frauen geholfen werde. Ob das zutrifft, mag hier unerörtert bleiben, weil für den Kern der Sache ohne Belang. Auch die Frage, ob die Frauen auf die Dauer den Dienst bewäl tigen können, wollen wir nicht entscheiden. Der Dienst ist ja leicht zu erlernen, der Umgang aber mit einem gewissen Teile des Publikums dürfte einige Schwierigkeiten bereiten..
Der Kern der Sache liegt in der Behauptung weiter Kreise des Bürgertums, die Straßenbahnverwaltung habe eine Wohltat erwiesen, als sie den Frauen diese neue Verdienstmöglichkeit eröffnete. Gewiß bedeutet jeder neue Erwerbszweig, der sich der Frauenarbeit öffnet, ökonomisch und kulturell einen Fortschritt. Aber nicht jeder Fortschritt macht sich zugleich als Wohltat für