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Die Gleichheit

Die Forderung vollen politischen Bürgerrechts für alle großjährigen Frauen ist in Deutschland   fest mit dem Ringen für das Recht der proletarischen Massen, für eine durchgrei fende Demokratisierung des politischen Lebens verknüpft. Die angeführten parlamentarischen Vorgänge lassen daher ein faltes, aber wahres Licht auf die Vergänglichkeit der Hoffnungsblümlein fallen, die frauenrechtlerische Hände in den politischen Flugsand der Hilfs- und Liebestätigkeit pflanzen. Sicherlich schafft der Krieg Verhältnisse, die- wenn begriffen und genutzt die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts mit einem starken Rud vorwärts­schieben können. Sie weisen den Frauen eine ganz bestimmte, politisch aktive Rolle zu, und zwar die, sich wie die Horatie­rinnen und Curiatierinnen der römischen Geschichte zwischen die kämpfenden Brüder zu werfen und auf die baldigste Beendigung des verderbenschweren Ringens hinzudrängen.

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Es ist der Frauen Pflicht und Recht, so zu handeln, denn ausgenommen den Zwang,

tragen sie wie die Männer alle Bürden und Opfer des un­geheuren und ungeheuerlichen Krieges. Ja, in Wirklichkeit tragen fie oft weit härter daran als diese. Der Kampf schafft für den Mann eine außergewöhnliche Umwelt, entfesselt Stimmungen, Triebe, Leidenschaften, Willensanspannungen, die über manche nagende Not des Augenblicks hinwegtragen. Das Weib lebt und webt im allgemeinen in der alten engen, fleinen Umgebung weiter, ohne den Rausch der Phantasie und des Willens, den der Kampf gebiert. Necht oft wird es für den Mann weniger schmerzlich sein, im Tosen der Schlacht, in Neih' und Glied mit vorwärtsstürmenden Kame­raden das tödliche Blei zu empfangen, als für die Frau da­heim, umringt von weinenden Kindern den Brief mit der Runde zu erhalten, daß ein Teurer gefallen oder für immer zum Krüppel geworden ist. Und muß nicht die Trägerin, Gebärerin, Hüterin und Erzieherin neuer Geschlechter den ganzen Graus, den Wahnsinn der Massenvernichtung blühen­den Lebens empfinden? Auch dann mit größter Schärfe empfinden, wenn der Krieg sie nicht selbst als Mutter ärmer macht, denn durch die Mütterlichkeit wird des Weibes Sinn der Zukunft zugewandt, und es schaut über die Gegenwart hinweg, was der Tod für die kommenden Zeiten an unersetz­lichen Werten dahinmäht.

Im Kampfe für den Frieden aber können die Frauen, was sie müssen, wenn sie nur entschlossen sind, sich selbst ganz da­für einzusetzen. Der Krieg hat die soziale Bedeutung der Mutter, der Hausfrau, der Berufstätigen und der öffentlich Wirkenden beträchtlich erhöht. Er zeigt im hellsten Lichte, daß die Gesellschaft ohne die weibliche Arbeit nicht einen Tag be­stehen könnte. An den Frauen ist es, die soziale Bedeutung ihrer Tätigkeit in politische Macht umzusetzen und voll zur Geltung zu bringen. Das wird Wirklichkeit, wenn bewußte Propaganda die leidenschaftliche Friedenssehnsucht von Mil­

Nr. 16 lionen Gattinnen, Müttern, Schwestern zum entschlossenen Friedenswillen zusammenballt, der fordernd, unnachgiebig, unbeirrbar in die Öffentlichkeit tritt. International, wie der Krieg seine furchtbaren Kreise zieht, namentlich aber in den um Weltherrschaft ringenden Staaten selbst. Werden die Frauen die Stimme der Geschichte vernehmen und verstehen, die sie zu einem Werk von gewaltiger Tragweite ruft, einem Werk, das der unsterbliche Beweis ihrer politischen Reife und Macht sein würde? Fast könnte man daran zweifeln, wenn man die Erklärung liest, mit der der Vorstand des Bundes deutscher Frauenvereine" die wenigen führenden Frauen­rechtlerinnen hochnäsig abtut, die politisch einsichtig genug gewesen sind, die Initiative zu einem internationalen Friedens- Frauenkongreß in Amsterdam   zu ergreifen. Was patriotisch klingen soll, ist in Wahrheit nichts als ein Armuts­zeugnis politischer Verständnislosigkeit, anders gesagt: der großen Rückständigkeit der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland  .

Vergessen wir angesichts dieses beschämenden Dokuments nicht die zahlreichen Bekundungen klaren internationalen Solidaritätsbewußtseins und entschlossenen Friedenswillens von Frauen aller Länder. Vergessen wir vor allem nicht, daß in der Frage der politischen Einsicht und Pflichterfüllung dieser geschichtlichen Stunde nun und nimmer die bürger­lichen Frauenrechtlerinnen allein das entscheidende Wort sprechen können, sondern daß dies die Aufgabe der breitesten Frauenmassen des arbeitenden Volkes sein muß. Wie aus dem Feuerstein den schlummernden Funken, so gilt es inter­national aus diesen Massen den zündenden Friedenswillen aufspringen zu lassen. Das internationale Friedenswerk der arbeitenden Frauen fann in unverwischbaren Zügen schrei­ben, was längst not tut: unsere Bürgerrechtsurkunde.

Lehrreiche Zahlen für Arbeiterinnen.

Die statistische Abteilung der Hauptverwaltung des Deutschen Textilarbeiterverbandes hat ein Werk herausgebracht, in dem das Ergebnis der Lohnstatistik von 1913 verarbeitet und da­mit der Agitation im weitesten Sinne nußbar gemacht wor den ist. Das Werk bietet eine Fülle von Material über die Arbeitslöhne, Arbeitszeiten und das Alter der Textilarbeiter­schaft und zeigt, daß die großen Unterschiede in den Löhnen und Arbeitszeiten nur durch das Wirken der Organisation ausgeglichen werden können. Es bestätigt die alte Erfahrung, daß günstigere Arbeitsbedingungen in Bezirken mit gut organi­sierter Arbeiterschaft zu finden sind, die ungünstigsten Bedin­gungen aber dort, wo die Proletarier sich noch der Erkennt­nis vom Wert der Organisation verschließen und deshalb der Willkür des Unternehmertums ausgeliefert sind. Möchte der nachfolgende Auszug aus der Statistik der Arbeiterinnen die Bedeutung der Organisation zeigen. Sie haben Klarheit darüber besonders nötig, denn leider ist bei ihnen im allgemeinen die Gleichgültigkeit gegen den festen Zusammenschluß noch größer als bei der männlichen Arbeiterschaft.

Nach den Berichten der Gewerbeaufsichtsbeamten wurden im Jahre 1913 in der deutschen   Textilindustrie 435 329 männ liche und 511986 weibliche Arbeitskräfte beschäftigt. Davon waren in Organisationen vereinigt 118291 Arbeiter und 68,054 Arbeiterinnen. 86854 Arbeiter und 53363 Arbeiterinnen ge­hörten dem Deutschen   Textilarbeiterverband an. Das Ber­hältnis gestaltet sich also wie folgt: von je 100 Beschäftigten waren 46 männliche und 54 weibliche, unsere Organisation zählte aber auf je 100 Mitglieder 60 männliche und 40 weibliche.

Ein überblick über die Zusammensetzung nach Altersklassen der von der Statistit erfaßten Proletarier bestätigt aufs neue, daß in der Textilindustrie alle Altersklassen der weiblichen Bevölkerung beschäftigt werden: vom jungen, eben der Schule entwachsenen Mädchen bis zur Greisin, die die Sechzig über­schritten hat.

Der wöchentliche Durchschnittslohn der Arbeiterinnen beträgt nach der Erhebung 13,15 Mt., der Durchschnittslohn der Ar­