122Die GleichheitNr. 19Pläne vorhanden. War zuerst der Gegensatz zu Frankreich in Nord-afrika entscheidend dafür gewesen, Italien in die Arme der Zen-tralmächte zu treiben, so hatte in dem letzten Jahrzehnt der wach-sende Gegensatz zwischen den Interessen des österreichischen unddeS italienischen Imperialismus auf dem Balkan die allmählich«Lockerung des Dreibundes zur Folge. Den ersten nachhaltigenStoß erlitt er, als Osterreich mit der Einverleibung Bosniens undder Herzegowina die Aufrollung der orientalischen Frage ein-leitete. Italien suchte Entschädigung in Tripolis und setzte damitalle jene Kräfte in Bewegung, die an der Aufteilung der Türkeiein Interesse haben. Die Balkankricge führten dem italienischenImperialismus neuen Nährstoff zu. Hatte schon früher die Parolegegolten, die Adria müsse ein italienisches Binnenmeer werden, soist es jetzt außer der dalmatischen Küste vor allem auch Albanien,dessen anarchische Zustände zum Eingreifen locken.Aber die Forderungen der„Jrredenta" nach Anglicderung allerItalienisch sprechenden, noch„unerlösten" Gebiete um Trient undTrieft? Sie sind nichts als das nationale Mäntelchen, das manden viel weitergehenden imperialistischen Bestrebungen in derÖffentlichkeit umhängt. Heute blicken die Augen der italienischenImperialisten sehnsüchtig nach K l e i n a s i c n, dessen Mineral-schätze das italienische Kapital reizen, und dessen Boden und Klimaein ideales Auswanderungsgebiet abzugeben versprechen. Seit denBalkankriegen hat Italien bereits auf einer Reihe Inseln imAgäischen Meer festen Fuß gefaßt und damit die Brücke nachKleinasien geschlagen.Mit allem Eifer sucht man den Imperialismus dem italienischenProletariat mundgercht zu machen. Die italienische Sozialdcmo-kratie hat nichts versäumt, um die Arbeiter über sein wahresWesen aufzuklären. Der italienische Imperialismus strebt außernach Anlagemöglichkeiten für die Finanz vor allem danach, dieminder entwickelten Völker des nahen Ostens in Kapitalhörigkeitzu zwingen. Das italienische Proletariat hat dabei nichts zu ge-Winnen, wohl aber zu verlieren. Die Kehrseite der imperialisti-scheu Auslandspolitik ist eine reaktionäre, arbeiterfeindliche Heimat-Politik.In der Woche, die der offiziellen Kriegserklärung an Osterreichvorausging, war ganz Italien der Schauplatz großer und heftigerDemonstrationen. Die bürgerliche Presse und die Zensur taten ihrmöglichstes, um die nationalistischen Kundgebungen recht iuipo-nierend erscheinen zu lassen, die Demonstrationen der Kriegs-gegner aber womöglich ganz totzuschweigen. Man wollte im Aus-land den Anschein erwecken, als ob das italienische Volk in derübergroßen Mehrheit den Krieg wünsche. So sehr standen Te-lephon und Telegraph unter Kontrolle der Zensur, daß auch dersozialdemokratische„Avanti" über die kriegsfeindlichcn Demon-strationcn nur berichten konnte, was er nachträglich durch Briefeerfuhr. Als in Mailand ein junger Parteigenosse während einerDemonstration erschossen wurde, gaben ihn die Kriegshetzer füreinen der Ihrigen aus, um so die Blutschuld von sich auf die Ar-beiterschaft abzuwälzen. Der Vater des Ermordeten sah sich ge-zwungen, den Toten im„Avanti" vor der Verleumdung in Schutzzu nehmen.Die italienischen Arbeiter haben sich heldenmütig gegen denKrieg gewehrt. Viele Demonstrationen, die die Presse als inter-ventionistische ausgab, wurden von ihnen in ihr Gegenteil ver-kehrt. Besonders erfolgreich waren die Kundgebungen in C r e-niona, Lecco, Orvieto, Alba, Livorno, Macerata,T e r n i und S p o l e t o. An den Demonstrationen der Kriegs-gegner beteiligten sich vielfach auch Soldaten, in mehreren Ort-schaften fanden kriegsfeindliche Manifestationen der Einberufenenstatt. Während die Arbeiter auf der Straße ihren Willen kund-gaben, tagte in Bologna eine Konferenz ihrer politischen undgewerkschaftlichen Organisationen zusammen mit der parlamcnta-rischen Fraktion. Einstimmig wurde eine Resolution angenommen,die in würdiger und entschiedener Sprache den Betrug entlarvt,der die Willensäußerung des italienischen Volkes fälschte und soder Regierung ühr abenteuerliches Spiel ermöglichte. Die Reso-lution unterstreicht die unverrückbare Gegnerschaft des Prole-tariats gegen den Krieg„aus Erwägung der nationalen Inter-essen und der erhabenen Ideale der Internationalen". Obwohldas sozialistische Proletariat Italiens sich bewußt war, daß esheute noch nicht die Macht besitzt, bestimmend in die kapitalistischeWelt einzugreifen, so hat es doch keinen Augenblick gezögert, mitaller Schärfe und Energie den Trennungsstrich zwischen sich undden kapitalistischen Machthabern zu ziehen. Die Konferenz zuBologna forderte die Arbeiter auf, am IS. Mai, dem Vorabendder Parlamentseröffnung, überall Protestversammlungen abzu-halten. Im„Avanti" rief der Parteivorstand die Nation noch-mals auf, den Umtrieben einer von der Regierung gepflegtenClique den Volkswillen kräftig entgegenzusetzen.Am 19. Mai wurden denn auch eine große Anzahl Protestver-sammlungen abgehalten, die die bürgerliche Presse natürlich syste-matisch mit Schweigen überging. In verschiedenen großen In-dustriestädten fanden Generalstreiks statt. In T u r i n hat dieArbeit vollständig geruht, auch die Straßenbahner hatten sich demStreik angeschlossen. Die Polizei drang in die Arbcitskammcr ein,zerschlug Möbel, Bilder usw. und beschlagnahmte die Gelder. AlleAnwesenden, zwei Abgeordnete eingeschlossen, wurden verhaftet.In San Giovanni Valdarno, wo Eisen- und Stahlindustrie vor-herrscht, kam es zu einem großen Demonstrationsstreik. TerGeneralstreik wurde ebenfalls in P i o m b i n o für den L9. Maibeschlossen, und große Versammlungen haben stattgefunden. InP r a d o, wo es viel Textilindustrie gibt, sollte abends eine Ver-sammlung abgehalten werden. Trotzdem die Stadt in ein Militär-lager verwandelt worden war und der Sekretär der Arbeitskammerunter solchen Verhältnissen von einer Demonstration abmahnte,hielten die Arbeiter eine große Protestvcrsammlung ab. EinGeneralstreik kündete die Kriegsfeindschaft der Proletarier inS a n t a C r o c e. In R i m i n i nahmen an der Demonstrationnicht weniger als 11) Ovo Frauen und Männer teil. Frauen inS u z z a r a ergriffen eine Fahne und veranstalteten eine Demon-stration. Lauter Protest, Schluchzen und Drohungen der Prole-tarierinnen übertönten oft die Rede der Arbeitersekretärin G o i a.Im Parlament, in der sogenannten„historischen Sitzung", ver-trat Genosse Tu rat i mit der großen Kraft seines Wortes undseiner Überzeugung klar und entschieden den Standpunkt derPartci.Er betonte, daß angesichts der Bekehrung so mancher Kriegs-gegner von gestern in Kricgsschürcr von heute es notwendig sei,zu beweisen, daß es im Parlament Leute gibt— ob es viele oderwenige sind, sei Nebensache—, die ihre Überzeugung nicht ver-leugnen, nicht davonlaufen, die nicht lügen.„Es ist notwendig,"erklärte Turati,„daß Ihre Anträge, der Nsgierung Generalvoll-machten zu verleihen, jemand mit einem aufrichtigen und schlichtenNein beantwortet____ Die Partei würde aufhören, eine sozialistischezu sein, sie würde ihren internationalen Grundcharakter ver-leugnen, wenn sie nicht im schärfsten Gegensatz zum Krieg undzu den Rüstungen stände." Turati wies den Vorwurf zurück, daßVaterlandsliebe und Kriegsseindlichkeit Gegensätze seien, ebensodie Zumutung, die Sozialisten sollten ihre Gefühle und Mei-nungen unterdrücken. Der Redner wies eingehend nach, daßItalien das größte Interesse daran habe, als Friedensstifterinzwischen den kriegführenden Nationen einzugreifen. Mehr alsirgendein anderes Land habe es nötig, in der Heimat selbst durchgroßzügiges Wirken den ökonomischen und politischen Einfluß zugewinnen, der durch die kulturelle Entwicklung und die Bevölke-rungszunahme erzielt werden kann. Am Schlüsse seiner Rede er-klärte Turati, die sozialistische Partei würde mit aller Kraft da-für eintreten, daß wenigstens die materiellen Folgen des Kriegesgelindert werden; daß die herrschenden Klassen nicht seine Lastenauf die Schultern der Enterbten abzuwälzen; daß die Errungen-schaften und Rechte des Proletariats keine Schinälerung erfahren.„Vor allem aber", so schloß er,„wollen die Sozialisten dafür Sorgetragen, daß die Keime der proletarischen Internationale— derenOrganisation noch zu schwach war, um dem Kriegsgewitter zuwiderstehen— nicht zerstreut und vernichtet werden. Wir werdenunser möglichstes tun zum Wiederaufbau der Internationale.Und zwar, meine Herren, brauchen auch Sie diesen Wiederaufbau.Denn der Zusammenbruch und die Vernichtung der Internationalebedeutet auch den Zusammenbruch und die Vernichtung derKultur." Diese Rede ist von fortwirkender geschichtlicher Bedeu-tung, wie überhaupt die mustergültige Haltung der italienischenSozialdemokratie. Hier wurde ein ruhmreiches Blatt in der Ge-schichte der sozialistischen Internationale geschrieben und gezeigt,was möglich ist, wenn man will. Wir unterschreiben die Würdi-gung, die die„Leipziger Volkszeitung" der Haltung unserer italie-nischen Bruderpartei zuteil werden ließ. Sie sagte:.Mit einer wahrhaft wunderbaren Bravour haben sich die italie-nischen Sozialdemokraten den brandenden Fluten entgegen-gestemmt, haben weder ssich selbst noch ihr proletarisches Strebe»verleugnet und ein hochragendes Vorbild aufgestellt. Sic habendurch die Tat die Theorien sehr vieler deutschenSozialdemokraten ad absurdum geführt und denklaren Beweis erbracht, daß eine Regierung, und mag sie sich soarbeiterfeindlich gebärden wie daS Ministerium Salandra vor demKrieg, nicht den Bürgerkrieg proklamiert, wenn der Feind vor denToren sieht. Die Abstimmung der sozialdemokratischen Fraktionam 4. August hat in der italienischen Partei lebhafte Kritik ge-