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Die Gleichheit

werden können. über die Blachfelder, da auf Befehl Brüder mit Brüdern tödlich ringen, erhebt sich aufrecht, ehrfurcht­gebietend die Gestalt des verstorbenen greisen Rämpfers, eine Verkörperung sozialistischer überzeugungstreue bis zum lez­ten Hauch. Denn wenn in Heir Hardie die heiße Sehnsucht der Arbeiterklasse Großbritanniens   nach Erlösung aus der Anechtschaft des ausbeutenden Kapitals durch den Sozialis. mus laut geredet hat, so nicht minder bestimmt die Erkennt­nis, daß dieser Sehnsucht nur Erfüllung reifen kann durch die Verwirklichung der Losung: Proletarier aller Länder, ver­einigt euch! Fest und kühn im Glauben an die Macht dieser Losung hat er sich in seinem Vaterland den tobenden Haufen des Jingoismus und der Kriegsfurie selbst entgegengeworfen, ein Stranker schon, bald ein Sterbender, aber kein müder, geschweige denn ein Kapitulierender, noch auf dem Krankenpfühl ein ganzer Mann und ein Täter des internationalen Sozialismus. Was Keir Hardie   für die Proletarier Großbritanniens   und ihren Emanzipationskampf geleistet hat, das können wir heute nicht einmal annähernd darstellen. Zu umfangreich ist das Lebenswerk des Mannes, der zuerst im besonderen als Vor­kämpfer der schottischen Arbeiter vor die Öffentlichkeit ge­treten ist. In den letzten drei Jahrzehnten dürfte es in Groß­ britannien   kaum einen wichtigen Zusammenstoß zwischen Ka­pital und Arbeit auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet gegeben haben, keinen bedeutenden Vorstoß für die Entfal­tung der Demokratie und für kulturellen Fortschritt, bei dem Keir Hardie   nicht ein ebenso energischer als opferbereiter Ver­teidiger der Enterbten gewesen wäre. Als Agitator, Organi­sator und Parlamentarier hat er ihrer Sache gedient. Er zählte zu den Arbeiterführern, die es als ihre Hauptaufgabe betrachteten, den Sozialismus unter die breitesten Massen zu tragen und namentlich auch die Gewerkschaften mit seinem Geist zu beseelen. So wurde Keir Hardie   einer der Erbauer und der tätigsten, einflußreichsten Führer der Unabhängigen Arbeiterpartei", die die Proletarier von der Gefolgschaft aller bürgerlichen Parteien loslösen sollte, wie auch der Arbeiter partei  " im Unterhaus. Sein Wort ging zu den Herzen des arbeitenden Volkes und fand Beachtung im Parlament.

Aus der Geschichte seines reichen Wirkens sei an dieser Stelle nur auf ein besonderes Blatt hingewiesen. Keir Hardie  war ein begeisterter, leidenschaftlicher Verfechter der Gleichbe­rechtigung des weiblichen Geschlechts. Mit seiner Beredsamkeit und seinem Einfluß stand er im Vordertreffen der Kämpfe für das Frauenwahlrecht. Volle Rechtsgleichheit für das Weib wie den Mann war ihm Herzenssache, war die Forderung eines Gerechtigkeitsgefühls, das Keir Hardie   hoch über die harten irdischen Dinge der Klassengesellschaft emportrug in die rosigen Wolken wesenloser Gedankenbilder, vor denen die Alaffengegensäße mit ihren praktischen Folgen verschwinden. So erklärt es sich, daß er immer wieder entgegen den Be­schlüssen von Gewerkschafts- und Parteifongressen im Heimat­land und von internationalen Tagungen auch für das be­schränkte Frauenwahlrecht eintrat. Im Lichte seiner Auffas­sung von Recht und Gerechtigkeit erblickte er nur die formale, grundsätzliche Annäherung an das Ideal, nicht aber die reale Macht, die in einer hoch entwickelten kapitalistischen   Gesell­schaft der Besitz mittels des Rechtes weniger gerade dem Triumph des deals für alle in den Weg rollt. Wenn so seine Haltung dazu zwang, die Klinge mit ihm zu freuzen, tat man das mit Bedauern und dem Gefühl herzlicher Achtung und Sympathie, das man dem ehrlich überzeugten schuldete.

Keir Hardies sozialistische Auffassung war typisch für den Sozialismus großer Kreise in England. Heißes Mitgefühl mit dem Leiden und dem Unrecht, die das Erbteil des Prole­tariats in der bürgerlichen Ordnung sind, glühende Hingabe an die höchsten Menschheitsideale fügen sich mit dem uner­schütterlichen Bewußtsein zusammen, daß der Sozialismus allein die gesellschaftlichen übel zu tilgen und diese Ideale zu verwirklichen vermag. Auf die Frage jedoch nach dem Weg, der zu dem leuchtenden Ziele führt, antwortet nur zu oft das Ge­fühl und die engbegrenzte Erfahrung von Tag zu Tag und

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nicht eine fest beranferte Erkenntnis von dem Wesen und den Kräften des geschichtlichen Prozesses, der zum Sozialismus führt. Der Sozialismus wird aus der Geschichte ew'gen Muß" zum kategorischen Imperativ der Moral. Allein über das Typische hinaus trug Keir Hardies sozialistische über­zeugung ein eigenes starkes persönliches Gepräge. Seine Seele blieb innig mit dem Empfinden, Denken und Sehnen der Massen verwachsen, aus denen er sich kämpfend emporge­hoben hatte, und die sogar in England sprichwörtliche schot­tische Frömmigkeit hielt eine tiefempfundene religiöse Grund­Stimmung in ihr wach. ,, Wozu über Theorien streiten?" schien Keir Hardies Herz bei. Meinungsgegensägen oft zu fragen. Die Sache ist ja so einfach, so klar. Wir sind alle Brüder, denn Gott   ist unser aller Vater." Das Gefühl konnte ihn in Nebendingen irren lassen, an den großen Scheidewegen hat es ihn dagegen richtig beraten und vor den talmiwissenschaft­lichen Spitfindigkeiten bewahrt, mit denen der flügelnde Ver­rat sich zu rechtfertigen sucht.

Keir Hardie   war sich vollkommen klar darüber, daß der So­zialismus nur international sein kann und unter allen Um­ständen international bleiben muß. Nicht etwa bloß in dem Lippenbekenntnis, vielmehr vor allem in den Früchten, an denen man die Sozialisten erkennen soll. Die internationale Solidarität der Proletarier aller Länder war ihm ein Glau­bensfazz und eine praktische Notwendigkeit zugleich, die uner­läßliche Vorbedingung und Vorstufe der allgemeinen Mensch­heitsverbrüderung. So duldsam er alle geschichtliche Eigen­art der verschiedenen Nationalitäten beachtet und geachtet wissen wollte, so hartköpfig er das Recht einer jeden einzelnen von ihnen verfocht, ihre eigenen taktischen Wege zu gehen, den besonderen Umständen daheim entsprechend: in dem Einen, Großen, Grundsäßlichen kannte er kein Schwanken und Wan­fen. Nämlich darin, daß über der Gemeinschaft der Volksge­nossen die größere Gemeinschaft der Menschheit steht, über dem Vaterland des nationalen bürgerlichen Klassenstaates die weltweite Heimat des internationalen Sozialismus. Von solcher überzeugung getragen hat Keir Hardie   in der zweiten Sozialistischen Internationale mit ganzer Seele gewirkt. Da­fern unsere Erinnerung nicht trügt, hat er schon 1889 an dem denkwürdigen Kongreß zu Paris   teilgenommen, der ihre Auf­richtung beschloß. Jedenfalls hat er sehr bald hervorragend an ihrer Entwicklung und Befestigung mitgearbeitet als einer der Führenden innerhalb der großbritannischen Sektion, zu deren Vertreter im Internationalen Sozialistischen Bureau er gehörte. Mit den vom Leben zerpflügten Zügen, der großen flaren Stirn, dem warmen, offenen, leuchtenden Auge, dem wallenden Silberhaar und-bart war Reir Hardie einer der Charakterköpfe, die auf den Kongressen der Sozialistischen Internationale schon äußerlich auffielen.

Mit treffsicherem Blick hat er die furchtbare Gefahr erkannt, die sich für das Befreiungsringen des Proletariats aller Länder in dem internationalen Imperialismus emporreckte und fast über Nacht wuchs. Aber er sah auch die Kraft, die sich dem Feind in troziger Kühnheit rechtzeitig entgegenwerfen mußte: die auf­wärtsdrängende Arbeiterklasse aller Länder, zum unverbrüch lichen Bruderbund geeint. Keir Hardies Überzeugung nach durfte dieser Bruderbund nicht zur bloßen G. m. b. H. für die Produktion von Resolutionen herabsinken, er mußte zum be­wußten Träger solidarischer Aftionen, zur tatbereiten und tatkräftigen Rampfesbereitschaft werden. Vom Kongreß der Sozialistischen Internationale zu Stuttgart   bis zu ihrer un­vergeßlichen Friedenstagung in Basel   hat unser Freund dar­auf gedrängt, daß die Arbeiter aller Länder für den Krieg gegen den Strieg, für den Widerstand gegen die Weltmachts­politik des kapitalistischen   Staates gerüstet seien. Und wie immer man seine eigenen Vorschläge zu diesem großen Zwed kritisch bewerten mag: ein sachlich richtiger Grundgedanke war in ihnen lebendig. Das Proletariat dürfe dem Imperialismus gegenüber nicht in Passivität verharren, es müsse gegen ihn alle Kräfte mobilisieren, die die geschichtliche Entwicklung in ihm erzeugt. Keir Hardie   selbst hat die volle Wucht seiner