66 Die Gleichheit Nr. 9 Angesichts dieses Standes der Dinge hat sich die Leitung des Deutschen Textilarbeiterverbandes mit einer Beschwerde und Ein­gabe an den preußischen Minister des Innern gewandt. Hoffent­lich wird bald Wandel geschaffen. In der Lederausrüstungsindustrie hat während des Krieges die Heimarbeit großen Umfang angenommen, beson­der? viele Heimarbeiterinnen werden hier beschäftigt. Die Ar­beiterorganisation hatte Anfang 1914 durch Reichstarif weitgehende Bestimmungen zur Beseitigung der Heimarbeit in der Leder­industrie durchgesetzt. Sie wurden leider seit Ausbruch des Krieges nicht streng eingehalten. Viele der neu errichteten Betriebe und der Zwischenmeister haben nichts nach dem Reichstarif gefragt. Sie bedienten sich dabei der Ausrede, daß sie keine unmittelbaren Auf­träge von Behörden hätten, weshalb ihnen auch keine Vorschriften betreffs der Bezahlung gemacht werden könnten. Gegen dieses Trei­ben wehrt sich jetzt die Organisation, der Sattler- und Por» tefeuillerverband. Er macht geltend, daß die Militär­behörden und die Bekleidungsämter darauf dringen, daß der ab­geschlossene Reichstarif eingehalten wird und daß besonders die festgesetzten Stücklöhne gezahlt werden. Die Zentraltarifkommis­sion hat neuerdings zu verschiedenen Lohnfragen Stellung genom­men. ES wurden unter anderem die Stücklöhne für die Feld- flaschen-Ledergestelle festgesetzt, die recht häufig durch Zwischen­unternehmer an Heimarbeiterinnen vergeben werden. Der Lohn für die Näharbeit an dreiteiligen Feldflaschen  -Ledergestcllen be­trägt 12 Pf., an vierteiligen Pf. Die Unternehmer haben aber die Unwissenheit der Heimarbeiterinnen vielfach mißbraucht und nur ö und 7V, Pf. gezahlt. Der Verband macht die Heimarbeite­rinnen in einem Aufruf darauf aufmerksam, daß sie unbedingt auf Bezahlung der tarifmäßigen Löhne zu dringen haben. Weigert sich der Unternehmer, diese zu zahlen, so soll das an die Organi­sation in Berlin  , Brücken st raße Ivb gemeldet werden. DaS noch seltene Jubiläum eines VOjährigen Bestehens konnte der Tabakarbeiterverband am ersten Wcihnachtsfeiertag begehen. Die Vorläufer der Organisation reichen sogar bis zum Jahre 1848 zurück. Die anfangs der fünfziger Jahre herrschende Reaktion, dazu innere Zwistigkeiten bereiteten jedoch diesen ersten Ansätzen zur Organisierung der Tabakarbeiterschaft bald ein Ende. Später wurde besonder? durch die Agitation dcS sozialdemokrati­schen Abgeordneten F r i tz s ch e der berufliche Zusammenschluß der Tabakarbeiter gefördert. Der Krieg von 186S brachte einen raschen Rückgang der Organisation, aber schon 1383 kam eS zum ersten größeren Kampf in Berlin  , als die Fabrikanten eine äußerst strenge Arbeitsordnung durchführen wollten. Der Krieg von 1879/71 versetzte der Entwicklung der Organisation wiederum einen schweren Schlag, mit der besseren Wirtschaftslage wurden aber bald an vielen Orten Forderungen nach höheren Löhnen er­hoben. Der Zusammenschluß machte in der Folge wieder Fort­schritte. Als 1877 der Deutsche   Tabakarbeiterverein mit über 8999 Mitgliedern schon eine kräftige Organisation dar­stellte, wurde er in seinem Aufschwung durch die Ära Tessendorf gehindert. Der Verein wurde aufgelöst und sein Blatt verboten. Trotzdem entstanden in der folgenden Zeit des Sozialistengesetzes schon Anfang der achtziger Jahre in den größeren Städten lokale Fachvereine der Tabakarbeiter. 1912 hatte die Organisation ihre höchste Mitgliederzahl, nämlich 37 211, darunter 189ö3 Arbei­terinnen. Der Verband hat mit besonderen wirtschaftlichen Widerständen zu rechnen, wie kaum eine zweite deutsche Gewerk­schaft. Die einfache ProduktionSart und die starke Heimindustrie, die umfangreiche Beschäftigung von Frauen und jugendlichen Ar­beitskräften sowie die häusige Abwanderung der Betriebe in länd­liche Gegenden, wo niedrige Löhne gezahlt werden: diese Umstände erschweren die Agitation und hindern den Fortschritt der Organi­sierung. Dazu kommt die andauernde Beunruhigung her Industrie durch Zölle und Steuern, die immer wieder neu eingeführt wer­den. Zieht man all diese Schwierigkeiten in Betracht, so muß man sagen, daß die gewerkschaftliche Organisation der Tabakarbeiter in den 99 Jahren Große» vollbracht hat. Sie hat erheblich dazu beigetragen, daß die Löhne nennenswert gestiegen sind, daß die wirtschaftliche und soziale Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen des Beruf» sich gebessert hat. H- Notizenteil. Für den Frieden. Der französische   Sozialistenrongresi und der Frieden. Uber den Verlauf de» Kongresse» liegen erst ganz unklare, sicherlich auch entstellte Nachrichten bürgerlicher Blätter vor. DaS eine steht fest: der Hauptteil der Verhandlungen war ausgefüllt mit der Erörte­rung über die Stellung der Partei zum Kriege. Compöre Mo­rel hielt die Teilnahme der Partei an der nationalen Verteidi­gung für Pflicht. Nach ihm gibt es in der französischen   Partei nur zweierlei Leute: solche, die den Frieden durch den Sieg wollen, und solche, die nicht mehr an einen Sieg glauben. Wer vom Frie­den spreche, arbeite nur der Reaktion vor. Dagegen forderte Bourderon als Wortführer der Opposition das Recht der Zu­sammenkünfte mit deutschen   Sozialisten. Es seien ja übrigens schon vor der Zimmerwalder Konferenz die Deputierten R e- n a u d e l und Longuet mit Bern   st ein und K a u t s k y zu­sammengekommen. Bourderon schloß mit der Versicherung, daß unter billigen Bedingungen oder nicht, er und seine Freunde ihr Werk fortsetzen würden. Der Kongreß nahm nach Beendigung der Aussprache einen An­trag an, der im großen ganzen die bisherige offizielle Parteipolitik in ihrer Stellung zum Kriege billigt. Die sozialistische Partei sei mit ganz Frankreich   unter dem brutalen Stoß eines Angriffs zum Werk der nationalen Verteidigung mit Ausschluß jeder Eroberung?- oder Annexionsabsicht in den Krieg eingetreten. Die Partei werde so lange im Kriege verharren, bis das Gebiet des Landes befreit und die Bedingungen eines dauer­haften Friedens sichergestellt sei. Unter diesen Bedingungen versteht die Partei die Wiederher st ellung Belgiens   und Ser­ biens   und das freie Verfügungsrecht der unter­drückten Völkerschaften, einschließlich Elsaß-Loth­ ringen   S. Die Kundgebung forderte die verbündeten Regierungen auf, alle Eroberungspolitik zurückzuweisen und sich genau an den Nationalitätengrundsatz zu halten. Eine Gewähr des Frieden? sieht sie in der Abschließung von Schiedsgerichtsverträgen; Beschränkung von Rüstungen; Abschaffung der geheimen Diplomatie und Or­ganisation der wirtschaftlichen und militärischen Bestrafung der Nation, die sich eine Vergewaltigung zuschulden kommen läßt. Die sozialdemokratische Partei lehnt die politische und wirt­schaftliche Vernichtung Deutschlands   ab, hält aber die des preußischen Militarismus für notwendig. Die Wiederauf­nahme der Beziehungen zur deutschen   Sozialdemokratie wird erst dann ins Auge gefaßt werden, wenn diese den Grundsätzen der In­ternationale wieder Kraft und Leben gegeben haben wird. In Ein­klang mit diesen Anschauungen hat der Kongreß sich für Kredit­bewilligungen und gegen jeden Sonderfrieden ausgesprochen. Die französische   Parteimehrheit hat wie die in anderen Ländern nichts gelernt. Sie erwartet immer noch das Heil der Demokratie von einem Zusammengehen mit den kapitalistischen   Klaffen, deren reaktionären Bestrebungen seit dem Kriege gerade auch in Frank­ reich   immer offener zutage treten. Diese Mehrheit will den Frieden durch die brutale Waffengewalt eines Staates über den andern, nicht durch die Mobilmachung des Friedenswillen» in den Volksmassen aller Länder. Ihr Standpunkt ist also der des Soldaten, nicht des Sozialisten. Die Forderung von Verträgen und Nüstungsbeschrän­kungen hätte nur dann einen Sinn, wenn in den vertragschließen­den Ländern die organisierten Volksmassen zugleich diereale Ga­rantie' ihrer Erfüllung böten. Solange der Friedenswille der Völker noch keine politische Macht bedeutet, sind die schönsten Ver­träge papierene Fetzen. Ist also alles beim alten in der französischen   Partei? Keines- Wegs. Der Kongreß bedeutet einen Fortschritt, denn die Resolu­tion wurde keineswegs mehr einstimmig gefaßt, wie auf der Kon­ferenz im Sommer. Die oppositionelle Minderheit ließ sich von den Friedensphrasen der Mehrheit nicht mehr umgarnen. Sie hat sich in Debatten tapfer gewehrt und 7S haben die Entschiedenheit be­sessen, gegen den Mehrheitsantrag zu stimmen. 192 haben sich der Stimme enthalten. Auch in Frankreich   geht die Ernüchterung und Rückkehr zum Si�ialismuZ langsam aber sicher ihren Gang. Di« Gründung eineS internationalen Aktionskomitees in Frankreich   ist eine gute Kunde, die uns der Jahresanfang gebracht hat. Der unmittelbare Ausgangspunkt der Gründung ist die Zimmerwalder Konserenz, die ihrerseits ihren Vor­läufer in der Internationalen Konferenz der so- zialistischen Frauen aller Länder zu Bern   im März 1919 gehabt hat. DaS Komitee ist aus Vertretern anerkannt tüchtiger GcwerkschaftSorganisationen zusammengesetzt, und wir verzeichnen mit besonderer Genugtuung, daß sich unter seinen dreizehn Mitgliedern zwei Vertreterinnen der s o z i a l i st i s ch e n Frauen von Paris   befinden, die Genossinnen Bouvard und Coutodier. Unsere Genossin Saumoneau, die Ver­treterin der sozialistischen   Frauen Frankreichs   auf der Berner Konferenz, ist also nicht vergeblich als Bahnbrechcrin und Füh-