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Die Gleichheit

unseren programmatischen Grundsäßen und unserer ganzen Welt­anschauung, auch niemals die Hand dazu bieten, daß andere Völ­fer unterjocht werden und ihre politische und wirtschaftliche Un­abhängigkeit und Selbständigkeit angetaftet wird.( Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Denn wir empfinden die Leiden der Proletarier der uns heute feindlich gegenüberstehenden Länder genau so, wie die Leiden unserereigenen Volksgenossen.( Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Unsere Feinde werden nur dann zu einem Frieden geneigt sein, wenn ihnen die gleiche Sicherung und Wahrung ihrer nationalen Rechte und Interessen gewährleistet wird, wie wir Sozialdemokraten sie für Deutschland   beanspruchen. ( Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Insbesondere verlangen wir, daß die völlige Unabhängigkeit und Selbstä n- digkeit   Belgiens wiederhergestellt und das diesem Land zu­gefügte und selbst vom Reichskanzler am 4. August 1914 eingestan­dene Unrecht in vollem Umfang wieder gutgemacht wird.( Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.)

Nach dem Kräfteverhältnis der verschiedenen Staaten muß jeder nüchterne Beurteiler es als eine Utopie betrachten, daß die eine oder die andere Seite einen Sieg erringen könnte, so gewaltig, um dem Gegner die Friedensbedingungen zu diftieren.( Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) In keinem Lande hat das Volk den Krieg gewollt. Überall heischen die Massen immer un­gestümer, daß dem entsetzlichen Blutvergießen ein Ende gemacht und der Zerrüttung des Volkswohlstandes Einhalt geboten wird. Unübersehbar sind schon jetzt die Opfer. Jeder Tag läßt das Meer von Blut und Tränen anschwellen. Sind fich diejenigen, die den Krieg heraufbeschworen haben, die das fur jtbare Maß der Schuld gegenüber dem eigenen Volte wie gegenüber der gesamten Menschheit tragen, ihrer Verantwortung bewußt? Graut ihnen nicht vor dem Anwachsen der Erbitterung, zu der die Verlängerung des Krie­ges die Maffen aufpeitschen muß?( Hört! hört! bei den Sozialdemokraten.) Wenn die Regierungen der kriegführenden Länder heute noch nichts von einem Frieden wissen wollen, so setzen sie sich damit aufs neue in schärfsten Widerspruch zu der großen Masse der Bevölkerung, die nichts sehnlicher herbei­wünscht, als sich wieder friedlicher Kulturarbeit widmen zu können.( Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Millionen blühender Menschenleben sind vernichtet worden, wei­tere Millionen sind verkrüppelt oder mit schleichendem Siechtum behaftet; zahllose Existenzen sind zerstört worden. In wenigen Monaten wurde die Kultur eines Jahrhunderts zerrüttet. Vieler Jahrzehnte wird es bedürfen, um das Zerstörte wieder aufzubauen. Die Regierung, die auch jetzt noch nicht die Hand zum Frieden bietet, häuft das Maß der Schuld gegenüber der gesamten Mensch­heit wie gegenüber dem eigenen Volte. Wir fordern, daß die deutsche Regierung den Regierungen anderer Länder vorangeht und ihre Eroberungspläne aufgibt, damit die Bahn für den dem Wohle der Menschheit dienenden Frieden geebnet wird. Der Ausbruch und der Verlauf des Krieges hat vor aller Welt das imperialistische Gewaltsystem gebrandmarkt.( Sehr rich­tig! bei den Sozialdemokraten.) Nicht durch die Macht der Bajo­nette, nicht durch Eroberungen und Vergewaltigungen, nicht durch das Aufwerfen neuer Bollwerke in Gestalt von Gebietserweite­rungen kann Frieden und Kultur gesichert werden, sondern nur durch die bewußte opfer- und kampfbereite Jnter essensolidarität der Proletarier aller Länder. (   Bravo! bei den Sozialdemokraten.)

Nach Verlesung der Erklärung verbreitete sich Genosse Hirsch über Teuerung, Lebensmittelwucher, steigende Unter­ernährung, Tuberkulose, Säuglingssterblichkeit in den unbe­mittelten Volksschichten usw. Er betonte, daß die Fühlung zwischen Regierung und Volk fehle, was nicht wunder nehmen könne, da die öffentliche Kritik durch die Zensur unterbun­den, das Vereins- und Versammlungsrecht illuforisch gemacht sei. Auch mit der Kriegsfürsorge beschäftigte sich Ge­nosse Hirsch und versagte vielen Anordnungen nicht seine An­erkennung. Er rügte es jedoch, daß oft untergeordnete Be­hörden sich nicht zu einer sozialen Auffassung des Unter­stützungswesens aufschwingen können. Die Erhöhungen der Unterstützungssätze haben mit den steigenden Preisen nicht Schritt gehalten. Die Notlage der Textilarbeiter verlange ganz besonders energische Maßnahmen. Der Bundes­rat habe Mittel bereit gestellt, aber in Preußen sei noch nichts Wirksames geschehen.

Nr. 10

Nachdem Genosse Hirsch die Fragen des Wohnungsmarktes, der Kriegssteuer, der Verwaltungspraxis, der   Polen- und Dänenpolitik erörtert hatte, sprach er zur preußischen Wahl­rechtsfrage. Den Bestrebungen, die Wahlrechtsfrage immer weiter zurückzuschieben, begegnete er mit der Warnung vor der steigenden Heftigkeit der Wahlrechtskämpfe. Die Sozial­demokratie habe die Pflicht, dem Volke zu sagen, daß man ihm zwar neue Pflichten, nicht aber neue Rechte gebe. Ver­sprechungen allein genügen nicht mehr. Vor allem müsse schleunigst das geheime Wahlrecht in Preußen einge­führt werden, damit die wirkliche Stimmung der Bevölkerung zum Ausdruck kommen könne. Die Regierung müsse die Grundlage nicht nur der Wahlrechtsreform, sondern der gan­zen Neuorientierung ihrer Politik aufzeigen und sich nicht mit allgemeinen Redewendungen begnügen.

In seiner Antwort meinte Minister Loebell: Das  deutsche Volk habe für Geist und Sinn der sozialdemokrati­schen Erklärung kein Verständnis." Ein preußischer Minister muß das ja wissen. Natürlich verteidigte Herr v. Loebell die Politik des Reiches, sprach von weltpolitischen Bestim­mungen" und meinte: Wir haben wohl Sorgen, aber wir haben keine Not." Zur Wahlrechtsfrage drückte er sich wenig­stens insofern deutlicher aus, als er eine Änderung der für die Wahlen zum Hause der Abgeordneten geltenden Bestim­mungen" ankündigte. Die Regierung sei entschlossen, nach Friedensschluß Preußen und   Deutschland von dieser um­strittenen Frage dauernd zu entlasten". Der Minister hofft, daß die große Mehrheit der sozialdemokratischen Partei auch im Frieden den Weg weitergehen wird, den sie seit Kriegsaus­bruch, wie er meinte, zum großen Segen   Deutschlands beschrit­ten hat. Die Regierung werde das ihre tun, um der Sozial­demokratie diesen Weg nicht schwer zu machen.

Kriegsbeschädigte als Textilheimarbeiter?

In der Fachpresse der Textilindustrie hat ein lebhafter Meinungsaustausch eingesetzt über die künftigen Möglich­keiten der Beschäftigung Kriegsbeschädigter. Die von den leider sehr zahlreichen Verlegten in jahrzehntelanger Berufs­tätigkeit erworbenen Kenntnisse sollen denjenigen Zweigen der Industrie nußbar gemacht werden, in denen die Kriegs­beschädigten groß geworden sind. Man hat erkannt, daß bei der langen Dauer des Krieges und den großen Opfern, die er fordert, mit den zu Anfang angewandten Mitteln der Unter­bringung Verletzter nicht durchgreifend geholfen werden kann, und versucht nunmehr systematisch entsprechend zu arbeiten. Zunächst sollen die Berufsgenossenschaften mit ihren Erfah­rungen helfend eingreifen, wie sie in einer dreißigjährigen Tätigkeit mit den Friedensbeschädigten" gesammelt worden find. Am 22. Oktober wurde in einer zu   Berlin abgehaltenen Sigung von Vertretern sämtlicher Textilberufsgenossen­schaften beschlossen, an der Hand aller Unfallakten und durch Umfrage zu ermitteln, welche Tätigkeiten die Leute jetzt noch auszuüben imstande sind, die Arme oder Beine oder Teile davon oder anderes durch einen Unfall verloren haben. Die sächsische Tertilberufsgenossenschaft hat es übernom­men, das einschlägige reiche Material zu fichten und zu bear­beiten. Die Leinenberufsgenossenschaft ist be­auftragt, durch Fragebogen die Urteile aller namhaften Fir­men und Fachleute über die Verwendung Kriegsverlegter aller Art bei den einzelnen Arbeitsverrichtungen einzuholen und den Interessenten zugängig zu machen. Unterricht und Unter­weisung der Verletzten, persönliche Einwirkung auf sie durch Gründung von Ausschüssen usw. sollen folgen. Bei allem wird lobend die rheinische beziehungsweise die Düssel­  dorfer Methode hervorgehoben. Soweit läßt sich zu­nächst wenig gegen die betreffenden Bestrebungen einwenden. Bedenklich wird die Sache schon, wenn von fachmännischer Seite" haarscharf nachzuweisen versucht wird, daß einarmige Leute ganz gut als Weber tätig sein können; daß Kriegsbe­schädigte anderer Berufe in die Weberei überzuführen sind