Nr. 10
Die Gleichheit
usw. So heißt es in einem Artikel der Leipziger Monatsschrift für Textilindustrie";
„ Halbbeschädigte können selbst in schweren Fällen ohne Bedenken bei der Weberei bleiben beziehungsweise zur Weberei angelernt werden; so haben wir beispielsweise mit einem Brauereiarbeiter, dessen linker Armknochen zum Teil ganz fehlt und der mit Hilfe einer gebogenen Hülse, in der der sonst schlaffe Arm steckt, mit dem Schultergelenk Bewegungen des ganzen Armes ausführen kann, in der Tuchweberei gute Resultate erzielt. Auch Beinamputierte, die zum Beispiel in ihrem früheren Beruf als Hof, Erd-, Pacarbeiter und dergleichen schwere Arbeiten zu verrichten hatten, können mit Erfolg zur Weberei angelernt werden. So wurden zum Beispiel mehrere dieser Leute, die durch. Erfrieren beide Füße verloren haben und unterhalb des Kniegelenks amputiert find, als Weber ausgebildet und erwerbsfähig gemacht."
Wer praktisch am Webstuhl tätig ist, wird diese Darlegungen durchaus ablehnen. Der Arbeitsverdienst des Der Arbeitsverdienst des Webers hängt wesentlich ab von der Geschicklichkeit seiner Hand und vom Grad der Schnelligkeit, womit er die Handgriffe auszuführen und sich zwischen den Webstühlen zu bewegen vermag. In manchen Zweigen der Wollenweberei muß zum Beispiel jeder Weber pro Stunde etwa 1500 Fäden mit anderen Fäden mittels Andrehens verbinden können, wenn er ,, konkurrieren" will. Das erfordert ein ausgeprägt feines, sicheres Tastgefühl, und oft sind bei der Arbeit schon leichte Verlegungen sehr hindernd. Gefühllose Finger können zum Aufgeben des Berufs zwingen. Zu beachten ist weiter, daß Arbeitsprothesen( fünstliche, zur Arbeitsverrichtung verwendbare Ersaßglieder) für Weber bis heute noch nicht vorhanden find. Allerdings sind auch die„ fachmännischen Seiten" sich bewußt, daß ein einarmiger oder ein einbeiniger oder ein beinloser Weber nicht soviel leistet wie ein im Besit seiner Glieder befindlicher, deshalb soll jeder Fabrikant den Beschädigten die gut laufenden Retten" geben. Der Praktiker weiß, daß das nur auf Kosten des ahnehin schon fargen Einkommens der gesunden Weber möglich ist.
Mit dem bisher schon Gesagten in Zusammenhang zu bringen sind die Bestrebungen der überführung Kriegsbeschädigter in die Textilheimarbeit. Diese Bestrebungen sind nicht nur gefährlich für die Kriegsbeschädigten und die Tertilarbeiter, sondern auch für das gesamte Volk. Seit Jahren sind Interessenten an der Arbeit, Stimmung zu machen für die Verpflanzung des mechanischen Webstuhls in das Heim des Arbeiters und die Anwendung der Elektrizität als Antriebskraft. Jetzt soll die Kriegsnot nachhelfen. In Nr. 52 der ,, Wochenberichte der Leipziger Monatsschrift für Textilindu strie" vom 29. Dezember heißt es an leitender Stelle nach einführenden Bemerkungen über die Zukunft der Verstümmelten und Verletzten:
„ Da ist es nun die Heimarbeit, die hier helfend eingreifen kann, das heißt, eine Heimarbeit, die eine sichere und ausreichende Verdienstmöglichkeit gewährt und den damit Beschäftigten nicht übermäßig anstrengt. Es muß ferner eine Heimarbeit sein, bei der eine regelmäßige Beschäftigung von vornherein sichergestellt ist, die also nicht von der Mode und anderen Zufälligkeiten abhängig ist. Budem muß dem Heimarbeiter, um ihm tatsächlich ein sorgenfreies Leben zu gewähren, die Beschaffung der Arbeit und die Verwertung derselben abgenommen werden, wenigstens so lange, bis er aus sich den Wunsch hat, in dieser Weise selbst zu bestimmen. Diese Möglichkeit muß jedem, wenn irgend angängig, offengehalten werden, um dem Vorwärtsstreben Vorschub zu leisten, so daß aus den anfänglichen Heimarbeitern nach und nach selbständige Gewerbetreibende werden können, wenn die Vorbedingungen gegeben sind. Man gebe also den Beschädigten gute und billige Wohnungen in gesunder Lage mit einem Garten dabei, der ihnen viel Aufenthalt und Betätigung in frischer Luft ermöglicht. Man gebe ihnen ge= sunde und freundliche Arbeitsräume und lohnende Arbeit, dann find die Borbedingungen erfüllt für ein zufriedenes, forgenfreies Leben, bei dem der staatliche Ehrenfold nur als eine angenehme Beigabe empfunden zu werden braucht. Eine solche Heimarbeit kann die Weberei bieten, wenn auf mechanischen Webstühlen, die elektrisch angetrieben werden, Gewebe einfacher Art von ziemlich hohem Werte hergestellt werden, bei denen ein regelmäßig genügend großer Bedarf vorliegt."
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Empfohlen wird sodann, auf gemeinnüßiger Grundlage Rolonien zu gründen, die aus einer Anzahl von Einzelfamilienhäusern mit angebauter Weberwerkstatt und Gärten bestehen. In ihnen soll den Kriegsbeschädigten, die sich der Heimarbeit widmen wollen, Unterkunft und Verdienstmöglichkeit gewährt werden. Als Mindestgröße einer solchen RoIonie werden etwa 20 Häuser mit 40 Webstühlen vorgeschlagen. Größere Kolonien, so heißt es, seien vorzuziehen. Im Mittelpunkt der Kolonie soll eine Werkstatt für Vorbereitung der Ketten und die Ausrüstung der Ware errichtet werden. In dieser Werkstatt hätte auch das Anlernen der Neulinge zu erfolgen. Die Weber sollen mit Militärartikel beschäftigt werden.
Man sieht das Bemühen, den Kriegsbeschädigten die Sache recht schmackhaft erscheinen zu lassen. So manchen dürfte die Aussicht anziehen auf ein Häuschen und ein Gärtchen, auf die nicht ständiger Aufsicht unterstehende Tätigkeit im Hause" und der„ auskömmliche Verdienst", das sorgenfreie und zufriedene Leben. Die Enttäuschung müßte jedoch sehr bald folgen. Mit Händen zu greifen sind die schlimmen seelischen Wirkungen, die das Zusammenwohnen der Kriegsverstümmelten in besonderen Kolonien und die damit notwendig verbundene Absonderung von den Gesunden auf die Betroffenen ausüben müßte. Doch davon abgesehen kann an einen angemessenen Verdienst der so geschaffenen neuen Heimarbeiter nicht gedacht werden. Neue Scharen hungerleidender Heimproletarier kämen zu den schon vorhandenen. Weit entfernt., zufrieden und sorgenfrei" dahinzuleben, würden sich die Heimarbeitenden Kolonisten, gezwungen von der Not des Lebens, sehr bald grollend und fämpfend erheben oder unfruchtbarem tötendem Fatalismus verfallen. Die Spuren schrecken! Wie heute schon die mit oder ohne Elektrizität in ihren Wohnungen schaffenden Weber, so müßten auch die künftigen Weberkolonien der Kriegsbeschädigten konkurrieren mit den Besitzern der großen, in Fabriken konzentrierten Webereien. Blicken wir nach Schlesien . Dort ist die Bildung von Genossenschaften der Hausweber erfolgt, und ihnen wurden genügende Mengen von Militäraufträgen zugewiesen. Das alles hat aber nicht vermocht, die Wirkungen der Fabrikkonfurrenz auf die Einkommen der Heimarbeiter aufzuheben. Nach wie vor hungert man in Katscher und anderen schlesischen Orten. Von Handelskammern und Unternehmern tief betrauert, geht denn auch die Zahl der Hausweber in Schle sien mit jedem Jahr zurück. Wie dort, so in anderen Bezirken. Jede Krisis drückt zuerst auf den Heimweber. Er ist zuerst ohne Arbeit und Brot. Ihm entzieht der Fabrikant zuerst die Beschäftigung. Die in der Fabrik in Form von Webstühlen investierten Kapitalien sollen sich verzinsen. Gerade der Krieg zeigt das ganze Elend der Heimweber aufs neue. In Ober franken sieht es unter diesen trostlos aus. Eine Statistik, bon der 56 organisierte Hausweber aus den Orten Conradtsreuth, Schwarzenbach am Wald, Selbig und Schauenstein erfaßt sind, und die sich über vier hintereinander folgende Wochen erstrecte, ergab einen durchschnittlichen Verdienst pro Arbeitswoche von 7,82 Mart. Innerhalb dieser vier Wochen waren 22 Weber voll beschäftigt, 18 Weber hatten drei Wochen, 10 Weber zwei Wochen, ein Weber eine Woche Arbeit, fünf Weber waren ohne Beschäftigung. Die 51 beschäftigten Weber verdienten zusammen in diesen vier Wochen 1275,01 Mart. Schließt man die Arbeitslosen und die zeitweise Beschäftigten mit in die Statistik ein, ohne Rücksicht darauf, in welchem Maße sie beschäftigt waren, so ergibt sich ein Durchschnittswochenverdienst von 5,69 Mark. Ebenso steht es in sächsischen Bezirken, in Lichtenstein - Callnberg und Hohenstein- Ernst thal. Die dortigen Fabrikanten versorgen gleichfalls zuerst ihre Fabriken mit Arbeit, die Hausweber müssen warten. Krankheit und Tod ist in ihre Hütten eingezogen. Die Militärbehörde bemüht sich, dem übel zu steuern.
Die Heimarbeit in der Weberei kann durch die überführung Kriegsbeschädigter in sie nur belebt werden auf Kosten