Nr. 10
Die Gleichheit
Es kam und kommt vielerorts zu Streitigkeiten darüber, ob denn die Jugend trop der Freiwilligkeit" zur Anteilnahme gezwungen werden könne. Das Kammergericht entschied in einem Streitfall im Juli 1915, daß die militärischen übungen durchaus ein geeigneter Gegenstand des Fortbildungsschulunterrichts seien, mindestens in der gegenwärtigen Kriegszeit,... auch um die Schüler in den patriotischen Gefühlen zu bestärken". Das Kammergericht bestätigte damit das Urteil des Landgerichts, wonach die Schüler zur Teilnahme verpflichtet sind.
Daß die Unternehmer mit Anträgen auf Befreiung der Jugendlichen vom Fortbildungsschulunterricht keineswegs zurückhielten, wird in einem Erlaß des Ministers für Handel und Gewerbe vom 1. Juli 1915 in folgenden Worten bestätigt:
Auf eine gründliche Prüfung der Befreiungsversuche von Fall zu Fall kann nicht verzichtet werden. Denn die Voraussetzung, daß die Gewerbeunternehmer nur im Falle wirklichen Bedürfnisses die Befreiung ihrer jugendlichen Arbeiter beanspruchen, hat sich leider bisher nicht überall bestätigt. Im Gegenteil hat sich gezeigt, daß vielfach Gewerbeunternehmer nicht geneigt waren, auf die Fortbildungsschule die Rücksicht zu nehmen, zu der sie wohl imstande gewesen wären.
Nach einem erst kürzlich erschienenen Erlaß des Handelsministers vom 25. September 1915 fann mit Genehmigung des Schulvorstandes und der zuständigen Regierungsbehörden die militärische Jugendvorbereitung auf den Lehrplan der Fortbildungsschule gesetzt werden; die Schüler sind als dann zur Teilnahmeberpflichtet. Das bedeutet für Preußen schon heute den 3 wang; die Freiwilligkeit besteht nur noch auf dem Papier.
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Dieser Willkür jeder einzelnen Gemeinde, jedes Schulvorstandes, jedes Vereins und nicht zuletzt jedes großindustriellen gewerblichen Unternehmens auf dem Gebiet der militärischen Jugendvorbereitung muß so bald als möglich ein Ende bereitet werden. Wir sind der Meinung, daß eine ausgedehnte foziale Fürsorge für Mutter und Kind, eine gründliche Reform der Volksschule nach modernen pädagogischen Grundsägen mehr Turnstunden, Spiele, Handarbeit und Lebensbeobachtung als Grundlage des Unterrichts, obligatorische Schulspeisung, Freiluftschulen! Verbot jeglicher Kinderarbeit, energisch durchgeführter Jugendschutz für die Schulentlassenen, gesetzliche Kürzung der Arbeitszeit sowie Spielnachmittage, daß solche Maßnahmen eher geeignet sind, unsere Jugend stark, Klug, energisch und lebensfroh, also im besten Sinne wehrhaft zu machen. Sollte trotzdem die militärische Vorbereitung Zwang werden, so fordern wir zum mindesten einheitliche, reichsgesetzliche Regelung. Die militärischen Übungsstunden dürfen weder auf Kosten des Fortbildungsunterrichts noch auf Kosten der freien Zeit unserer Jugend abgehalten werden. Sie sollen für die Jugend aller Volksflassen gemeinsam und für alle zu gleicher Zeit stattfinden.
Wenn es den staatlichen Behörden mit ihrer Sorge um das Volkswohl wirklich ernst wird, so legt die Arbeiterklasse diesem Bestreben sicherlich kein Hindernis in den Weg, aber unter feinen Umständen wird sie darauf verzichten, ihre Jugend in ihrem Sinne zu erziehen. Daß sie hierbei auf gutem Wege wandelt, hat selbst die freikonservative„ Tägliche Rundschau" kürzlich bestätigt mit Ausführungen, die die sittlich hebende Kraft der Arbeiterjugendbewegung anerkennen. Dort heißt es:
Die Sozialdemokratie hat nach reinen, vorurteilsfreien Beobachtungen das große Verdienst, sowohl den Alkoholismus so erfolg= reich wie kaum eine andere mit ihr konkurrierende Vereinigung zu bekämpfen; sie hat auch das Verdienst, durch ihre Jugend pflege die Fabriklehrlinge von der Straße und aus dem Wirtshaus fortgebracht zu haben. So war es mir durchaus nicht überraschend, als mir unlängst ein Fabrikbefizer aus Berlin , der 500 Arbeiter beschäftigt, erklärte, er verdanke es allein der Antialkoholbewegung und der Jugendpflege der Sozialdemokratie, daß sowohl seine zahlreichen Lehrlinge als auch seine Arbeiter überhaupt in den letzten Jahren auf ein bedeutend höheres sittliches Niveau gehoben worden seien....
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Auch die militärische Jugendvorbereitung wird uns nicht abbringen weder vom Weg noch vom Ziel. Erfüllen wir un ſere Jugend mit unseren Idealen der Menschenliebe und Brüderlichkeit, dann bleiben die Söhne und Töchter des Proletariats stolze Kinder der Klasse, der sie entstammen, deren Arbeit fortzusetzen und zu vollenden sie berufen sind.
Aus der Bewegung.
Weihnachtsfeier im Frauenleseabend des zweiten Berliner Wahlkreises Süd. Als Weihnachten 1914 herannahte, das erste während dieses blutigsten und grausamsten aller bisherigen Kriege, wurde der Wunsch einiger Genoffinnen laut, die Weihnachtsfeier gemeinsam unter sich mit ihren Kindern zu begehen. Sie, die das ganze Jahr in ernster Arbeit sich gemeinsam mühen, ihr Wissen zu bereichern, die Lehren des Sozialismus immer klarer zu erfaffen, Sozialistinnen mit Leib und Seele zu werden und zu sein, wollten sich auch an dem sogenannten" Feste der Liebe" als eine Gemeinschaft empfinden. Der Gedanke schlug Wurzel und jede einzelne der Genossinnen tat ihr bestes, um die gemeinsame Feier schön und in unserem Sinne feierlich zu gestalten. Das Jahr 1915 verrann und zum Fest des Friedens" verbreiteten die Kanonen noch immer Tod und Verderben. Männer, Söhne und Brüder standen im Felde, Mütter, Frauen und Kinder lebten in bangen Sorgen, Witwen und Waisen trauerten. Wann aber empfände man wohl schmerzlicher das Getrenntsein von seinen Lieben, die stete Sorge um sie, ihren herben Verlust, als an Tagen, die früher alle in gemeinschaftlicher Freude vereinigten? Dazu kam, daß wegen der großen Teuerung und der Knappheit der Mittel gar manche Mutter dieses Jahr noch weniger als im vorigen imstande war, ihren Kindern einen Weihnachtsbaum anzuzünden und den Weihnachtstisch zu decken. Was den einzelnen aber versagt blieb, das sollte einer Gemeinschaft gelingen, und es gelang. Die Genossinnen des Leseabends wetteiferten mit einander, um alles Gute und Schöne für die wiederum beschlossene Weihnachtsfeier vorzubereiten und herbeizuschaffen. Als am Abend des 28. Dezember 78 Genoffinnen mit 90 Kindern von einem bis 14 Jahren sich im Saale der Arbeiterbildungsschule zur Feier eingefunden hatten, strahlte ihnen im Lichterglanze der Weihnachtsbaum entgegen. Wie jubelten die Kinder, als jedes außer Pfefferkuchen, üpfeln und Nüssen noch allerlei erhielt, was Kinderherzen mit Wonne erfüllt und Kinderaugen glücklich leuchten macht. Weihnachten ist ja das Fest der Kinder, und so standen diese im Mittelpunkt unserer Feier. Nach dem ge= meinsamen Gefang des alten, lieben Liedes: O Tannenbaum", sprach ein Kind mit schönem, verständnisvollem Ausdruck einen Prolog. Kleinere Kinder führten einen Reigen auf und mehrere Mädchen einen Gesellschaftstanz, den sie„ heimlich" eingeübt hatten. All das war wohlgelungen und rief viel Freude hervor. Knaben und Mädchen drängten sich zum Auffagen ihrer Weihnachtsgedichte, die erkennen ließen, daß denkende sozialistische Mütter sie ausgewählt hatten. War unser Weihnachten für die Kinder ein Fest der Freude, so für die Erwachsenen ein Fest der Erhebung und Hoffnung im Glauben an die sozialistische Zukunft. Dem Ernst der Zeit gab die Festrede Ausdruck. Den Müttern wurde ans Herz ge= legt, ihre Kinder so zu erziehen, daß jedes ein Miterlöser der Menschheit werde, damit von ihnen das Werk siegreich durchgeführt werde, das wir nicht mehr vollenden können. Wenn in allen Ländern die Arbeiter das Bewußtsein ihrer internationalen Gemeinschaft erlangt haben, wenn ihre Vereinigung den Boden freilegt für den neuen Gesellschaftsbau des Sozialismus, dann wird nicht in Worten, fondern in der Tat Friede auf Erden sein und allen Menschen ein Wohlgefallen. Mit dem gemeinsamen Gesang eines unserer schönen Kampfeslieder schloß die erhebende Feier, die sicher das sozialistische Schwester- und Zusammengehörigkeitsgefühl der Genossinnen gestärkt hat. Auch die Teilnehmerinnen der übrigen Leseabende des Kreises, die kleinere Gruppen von Frauen umfaffen, haben in diesem Jahre gemeinsame Weihnachtsfeiern abgehalten, die ebenfalls wohlgelungen sind. Es gab dort freudige überraschungen für die Kinder, und Jugendgenossinnen und Jugendgenossen trugen zur Verschönerung der Feier durch Musik und Gesang bereitwilligst bei. Ottilie Baader .
Politische Rundschau. Jannartagung des deutschen Reichstags. Eingehende Debatten im Ausschuß und Plenum über Belagerungszustand, Zensur, Ernährungsfragen drücken der diesmaligen