Nr. 11

26. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen

Mit den Beilagen: Für unsere Mütter und Hausfrauen und Für unsere Kinder

Die Gleichheit erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig. Jabres- Abonnement 2,60 Mart.

Inhaltsverzeichnis.

Stuttgart

18. Februar 1916

Franz Mehring zum 70. Geburtstag. Kriegskosten und Volks­lasten. Aus der Bewegung: Eine öffentliche Frauenversamm lung in Königsberg . Genossenschaftliche Rundschau. Von H. F. Notizenteil: Burgfrieden. Für den Frieden.- Sozialistische Frauen­bewegung im Ausland. Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. Frauenbewegung.

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Franz Mehring zum 70. Geburtstag.

Bon Wahrheit ich will nimmer lan, Das soll mir bitten ab fein Mann, Auch schafft zu stillen mich kein Wehr, Kein Bann, tein' Acht, wie fest und sehr Man mich damit zu schrecken meint. Ulrich v. Hutten.

Wenn rasender Sturm das Meer peitscht und sich höher und höher türmende Wellenberge gegen das Schiff wälzen; wenn der hassenden Elemente Wut mit Menschenwerk und Menschenleben zu spielen und Menschenwillens zu spotten scheint: blicken wir mit Bewunderung und Vertrauen auf den Steuermann, der kühn und treu auf seinem Posten aus­harrt, den Blick unverzagt auf das Ziel gerichtet, die Hand fest am regelnden Rad. Als solch ein Steuermann steht Franz Mehring an seinem siebzigsten Geburtstag in wildbewegter Zeit vor uns, steht er in der Geschichte. Als solch einen Steuermann grüßen ihn in tiefer Dankbarkeit die Sozia listen aller Länder, und zumal die deutschen Sozialisten, denen die Schlußlosung des Kommunistischen Manifests nicht zum politischen Kinderspott geworden ist; als solch einen Steuermann grüßen ihn alle, die sich stolz und glücklich seine persönlichen Freunde nennen.

Wind und Wellen des imperialistischen Weltkriegs werfen die Grundsätze vieler voranschreitenden Sozialisten wie leere Nußschalen hin und her, ein Blutnebel nationalistischen Emp­findens verdunkelt breiten proletarischen Massen das sozia­listische Ideal, das ihnen früher wegweisend leuchtete. In den schweren Monaten des Versagens von Führern und Geführ­ten hat Franz Mehring als internationaler Sozialist mit Theorie und Praxis, mit Bekenntnis und Tat den Kurs ge­halten, der durch das Wesen des wissenschaftlichen Sozialis­mus bedingt ist. Von schwerster Ungunst der äußeren Um­stände umlauert, Aug in Auge mit der Gewalt des Belage­rungszustandes und der Zensur, durch die Nücken und Tücken des bureaukratisierten Parteimechanismus gehemmt, doch gehemmt, doch nicht bezwungen, hat der Siebzigjährige damit eine opfer­bereite Kühnheit betätigt, die Jünglinge beschämt. Für das geschichtliche Geschehen und seine Tragweite hat der Literat" eine Schärfe und Klarheit des Blickes bekundet, die ihm mancher sozialistische Realpolitiker" neiden könnte, in dem der Geist staatsmännischer Weisheit mächtig rumort. So ist Franz Mehrings Wort und Beispiel eine bedeutsame leben­dige Kraft in dem Selbstbesinnungsprozeß, zu dem sich die sozialistischen Parteien aus der tragischen Krise zurückzufin­den beginnen, von der sie in fast allen Ländern mehr oder weniger stark erschüttert, ja aufgelöst werden. Und es wird

Zuschriften an die Redaktion der Gleichheit find zu richten an Frau Klara Zetkin ( Zundel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bei Stuttgart . Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furtbach- Straße 12.

zur würdigsten Krönung des reichen Lebenswerks, das der Theorie und Praxis des Sozialismus, das dem Befreiungs­kampf des internationalen Proletariats wertvollste Förderung gebracht hat und bringt.

Franz Mehring wurde am 27. Februar 1846 zu Schlatve in Pommern als Sohn eines Pastors geboren. Er besuchte das Gymnasium zu Greifswalde , studierte in Berlin Ge­schichte, Philosophie usw. und erwarb in Leipzig den Doktor­hut. Der politische Kämpfer muß sich jedenfalls früh und be­stimmend in ihm geregt haben. Dreiundzwanzigjährig be­ginnt Franz Mehring in der Zukunft" des aufrechten Guido Weiß zu schreiben, dessen strenge grundsätzliche Auffassung bürgerlicher Demokratie er teilte. Politisches Bekenntnis und politische Tat war schon für den jugendlichen Mehring eins. Mutvoll warf er sich Mutvoll warf er sich um ein treffliches Bild Wilhelm Liebknechts zu wiederholen Liebknechts zu wiederholen- dem tosenden Niagara chauvi­nistischer Stimmung entgegen, die 1870 die Gemüter be­herrschte. Mit den kernfesten Demokraten Johann Jakoby, Guido Weiß, Paul Singer und einigen anderen zusammen veröffentlichte er einen Protest gegen den Krieg. Sein kleines Wagnis in jenen Tagen, wie unsere Genossen von den ein­geworfenen Fensterscheiben in Liebknechts Wohnung und der Heze gegen diesen wie Bebel wissen.

Als Berichterstatter für die Parlamentskorrespondenz von Oldenburg hatte Franz Mehring von 1871 bis 1873 beste Ge­legenheit, die parlamentarische Praxis mit ihrem Um und Auf wie die führenden Parlamentarier der einzelnen Par­teien aus nächster Nähe zu beobachten. In den Jahren 1873 bis 1876 mar er Mitarbeiter und dann Mitredakteur der Wage", die Guido Weiß herausgab. Nach dem Eingehen dieses tapferen Organs schrieb er für verschiedene Tages­blätter: die Spenersche Zeitung ", die Saale- Zeitung", die Weser- Zeitung"; 1883 wurde er Mitarbeiter der ,, Berliner Volkszeitung", die damals wohl als das konsequenteste und angesehenfte Tagblatt der bürgerlichen Demokratie ange­sprochen werden durfte, und an der er von 1885 bis 1890 als Redakteur tätig war. Mit dem Ausscheiden aus der Redak­tion der Volkszeitung" findet der geistig- politische Entwick­lungsprozeß äußerlich seinen Abschluß, der Franz Mehring unter den Stürmen der sozialistengesetzlichen Zeit aus einem bürgerlichen Demokraten in einen Sozialdemokraten ver­wandelt hatte. Langsam und nicht ohne Schwankungen und heißes Ringen, dafür aber organisch und schließlich dank einer um so klareren, tiefgewurzelten Erkenntnis.

Dem jungen Mehring war es bitterer, heiliger Ernst mit seinem Bekenntnis zur bürgerlichen Demokratie. Thr Verfall, der zumal nach dem Deutsch - Französischen Kriege und der Reichsgründung so rasch, gründlich und unaufhaltsam war, wie der Aufschwung des Kapitalismus, überschüttete ihre ehrlichsten und konsequentesten Verfechter mit Enttäu­schungen, die in den Seelen brannten. In der nämlichen Zeit leuchtete der Stern der sozialdemokratischen Bewegung heller und heller auf. Die Sozialdemokratie erschien als die natür­liche Fortentwicklung und Vollendung der bürgerlichen De­