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Die Gleichheit

zerischen Industrie* ein. Eine Antwort vermag er aber nicht zu finden. Er sieht zwar das zerstörende Wirken der ka­ pitalistischen   Produktionsweise, findet aber keinen Ausweg. Denn vom Sozialismus weiß er nicht mehr, als daß er ,, gewissermaßen ein Kasernensystem" einführen wolle, und daß den extremen sozialistischen   Frauenrechtlerinnen" der Frauenschutz nur als ein Mittel erscheine, dessen sich die Männer bedienen, um ihre Konkurrenten loszuwerden...." ,, Die Nachtarbeit werde den Frauen nur verboten, weil sie bessere Löhne gewähre, die die Männer für sich behalten wollen." So und ähnlich lauten die Ansichten, die in den Köpfen dieser Sozialreformer spuken. Bis heute sollen sich ,, diese sozialistischen   Gesellschaftsformer allerdings nur wenig Anhang" haben werben können. Wer solche Ansichten äußert, die die größte Unwissenheit verraten, von dem ist freilich nicht zu erwarten, daß er zur Klärung des Problems der indu­striellen Frauenarbeit beitragen könne. Aber lassen wir diese Ansichten beiseite. Neben ihnen enthält das im Seminar von Professor Dr. Sieveking entstandene Buch ein sehr reichhal tiges Material und gibt ein umfassendes Bild von der indu­striellen Frauenarbeit in der Schweiz  .

Die besonderen Verhältnisse in der Schweiz   haben auch eigenartige Erscheinungen der industriellen Frauenarbeit ent­stehen lassen. Durch den großen Fremdenverkehr finden viele Mädchen und Frauen in den Hotelbetrieben und in anderen Gewerben, die dem Fremdenverkehr dienen, eine Beschäfti­gung, die angenehmer und lohnender ist als die Fabrikarbeit. Die Industriellen in der Schweiz   empfinden deshalb einen Mangel an Fabrikarbeiterinnen. Die Textilindustrie, die allein deren etwa 65 000 bedarf, ist in wenigen Kantonen der Ostschweiz   konzentriert, deren Arbeitskräfte den Bedarf bei weitem nicht decken. Die Zuwanderung von der übrigen Schweiz   ist gering. Die Unternehmer suchen deshalb Arbeite­rinnen aus dem Ausland, vor allem aus Italien   herbeizu­ziehen. Die Fabrik schickt entweder einen eigenen Agenten nach Italien   auf das Land, wo er die Leute für seine Fabrik anwirbt und truppweise selber in die Schweiz   führt, oder fie bedient sich eines italienischen Vermittlers, der ihr gegen Provision die Arbeitskräfte liefert." Dr. Kaufmann berichtet, daß in den Jahren 1908 und 1909, wo sich infolge einer Hoch konjunktur der Arbeiterinnenmangel sehr bemerkbar machte, die Zwirnereibesitzer Prämien ausgesetzt haben für Zuführung neuer Arbeitskräfte. Wer eine Arbeitskruft brachte, erhielt 10 Franken, wenn sie zwei Jahre blieb 20 Fronken, drei Jahre 30 Franken, bis auf fünf Jahre 50 Franken, und zwar 5 Franken bei der Zuführung und den Nest nach der abge­Taufenen Zeit.

Die auf diese Art zusammengetriebenen und verschacherten modernen Sklavinnen erwartet in der Schweiz   kein ange­nehmes Los. Von einheimischen Familien meist gar nicht aufgenommen, wären sie( die jungen Italienerinnen) ge­zwungen, bei ihren Landsleuten Unterkunft zu suchen, die in sehr vielen Fällen danach trachten, diese wehrlosen Opfer nach Möglichkeit auszubeuten." Die Unternehmer haben nun bei ihren Fabriken Arbeiterinnenheime" errichtet, deren es im Jahre 1911 in der Schweiz   57 gab, in denen 3502 Arbeite­rinnen, darunter 2182 Ausländerinnen, untergebracht waren. Mit solchen Einrichtungen werden die Arbeiterinnen fester an die Fabrik gefesselt, dem Unternehmer völlig ausgeliefert.. Und Dr. Kaufmann stellt fest, daß diese Anstalten ,, den Italie­nerinnen eine annähernd gleiche Lebenshaltung ermöglichen wie in ihrem Heimatland, ein äußerst wichtiger Umstand, angesichts der sehr niedrigen Löhne." Da diese Mädchen aus den ärmsten Gebieten Italiens   kommen, wo ihre Lebenshaltung die denkbar niedrigste war, so kann man sich vorstellen, wie diese annähernd" gleiche Lebenshal­tung beschaffen sein mag!

Die italienische Regierung hatte nun einige Zeit, bevor Dr. Kaufmann seine Studie verfaßte, Maßnahmen ergriffen, * Züricher   volkswirtschaftliche Studien. Elftes Heft. Zürich   und Leipzig   1915, Verlag von Rascher& Cie.

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um diesen Sklavenhandel einzuschränken, zumal da die Unter­nehmer in Norditalien   selbst nach diesen billigen Arbeits­fräften trachteten. Ein Erlaß der italienischen Regierung ord­nete eine strenge überwachung der Emigration ins Ausland an und bestimmte, daß die Erlaubnis zur Anwerbung von Arbeiterinnen nur nach Vorlegung eines vollständigen Ver­trags erfolgen darf, aus dem ersichtlich sein muß: 1. Die en­gagierende Firma, der Name der zur Vermittlung beauftrag­ten Person. 2. Dauer des Vertrags und die tägliche Arbeits­zeit. 3. Der zugesicherte Mindestlohn; der für allfällige über­stunden zu berechnende Lohn. 4. Die Unterkunfts- und Ver­pflegungsverhältnisse. 5. Die Befugnis des italienischen Kon­juls oder eines Auswanderungsinspektors, die Fabrik sowohl als auch die Unterkunftslokale jederzeit besichtigen zu dürfen. 6. Die Art und Weise, wie Streitigkeiten zwischen den Fabri­kanten und der Arbeiterin erledigt werden.

Wie furchtbar muß die Lage der italienischen Arbeiterinnen in den schweizerischen Fabriken gewesen sein, daß schon diese wenig sagenden Bestimmungen der Anwerbung große Schwie­rigkeiten bereitet haben! Die Fabrikanten in der Schweiz   ver­suchten nun, Arbeiterinnen aus slawischen Ländern heranzu­ziehen. So ließ sich eine Fabrik 20 Mazedonierinnen kommen und quartierte sie in ihrem Arbeiterinnenheim ein. Diese Mädchen, denen die erheblichen Reisekosten am sehr niedrigen Lohne ratenweise abgezogen wurden, haben aber die Aus­beutung nicht ruhig ertragen. Einer der weißen Sklavinnen" gelang es, nach Zürich   zu entfliehen, und die Presse ist dann sehr scharf gegen diese Art der Sklaverei aufgetreten.

Troß des Mangels an Arbeiterinnen nimmt die industrielle Frauenarbeit auch in der Schweiz   fortgesetzt zu und erobert sich immer weitere Gebiete. Diejenigen Erwerbsarten, in denen ausschließlich Männerarbeit herrscht, werden seltener und seltener. Im Jahre 1901 waren in 12,7 Prozent, 1911 nur noch in 7,5 Prozent aller Industriezweige feine Frauen be­schäftigt. Aber die Zahl der Fabrikarbeiterinnen wuchs doch nicht in dem Maße, wie man nach den Ergebnissen der ersten Jahrzehnte hätte erwarten können. Die Frauenarbeit ent­wickelte sich außerdem sehr ungleichmäßig. In den einen Ar­beitsgebieten geht sie zurück, in den andern macht sie Fort­schritte. Der Prozentsatz der weiblichen Arbeiter betrug in der

Baumwollspinnerei Baumwollweißweberei Buntweberei.. Seidenindustrie.

Stickerei

Chemischen Industrie  .

1901

1911

50,9

55,7

70,2

71.6

65,8

64,6

74,1

75,4

Wollenindustrie.

58,8

58,9

Leinenindustrie.

60,7

56,3

60,2

62,1

Nahrungsmittelindustrie.

48,0

48,4

14,9

13,3

Papierfabrikation und graphische Getverbe 25,7 Buchdruckerei

27,1

15,6

16,3

Holzbearbeitung

1,9

1,8

Metallbearbeitung.

6,7

6,2

1,4

2,4

36,1

38,8

56,2

62,9

3,4

5,5

4,0

5,0

Gießerei und Maschinenbau  Bijouterie, Uhrenindustrie Uhrensteinfabrikation.

Industrie der Erden und Steine Ziegelei

Nach der eidgenössischen Fabrikstatistik vom 5. Juni 1911 gab es in der Schweiz   117 764 Arbeiterinnen, von denen 28 332 Besorgerinnen eines eigenen Hauswesens waren, gegen 211 077 männliche Fabritarbeiter. Die Fabrikarbeit der Frauen ist also auch in der Schweiz   umfangreich genug und nimmt in den meisten Berufszweigen noch zu. Immerhin konnte jedoch eine relative Abnahme der industriellen Frauen­arbeit verzeichnet werden. Nach der eidgenössischen Fabrikstatistik vom Jahre 1911 betrug der Zuwachs der Arbeiter in Prozent: Männlich Weiblich Insgesamt

1882 bis 1888

22,5

12,9

18,0

1888= 1895 1895 W 1901

38,2

11,1

26,4

26,0

14,0

21,1

1901

M 1911

40,5

27,7

35,5