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Die Gleichheit

Klassenbewegung sei die Idee, eine Welt zu schaffen, in der das Recht an Stelle der Gewalt tritt; es behauptet, von diesem Gedanken sei seine Tätigkeit unablässig geleitet wor den. Aber die Tätigkeit des Bureaus bestand in Untätigkeit. Es schwieg dazu, als in friegführenden Ländern an Stelle der internationalen Arbeitersolidarität die nationale Klassen harmonie verkündet wurde. Es schwieg dazu, als unter der Losung nationaler Verteidigung sozialistische Parteien auf jede selbständig- proletarische Politik verzichteten. Es schwieg dazu, als mit der Predigt des Evangeliums vom Durch halten an der Seite der Kapitalisten aller Länder die furcht­bare Völkerzerfleischung ins Unabsehbare gesteigert und ver­längert wurde. Es ist Dreistigkeit und Heuchelei, zu behaup­ten, daß eine Tätigkeit", die das alles widerspruchslos ge­schehen ließ, von dem internationalen proletarischen Mai­gedanken beseelt sei.

Es ist dieselbe Heuchelei, wenn versichert wird, die großen angeschlossenen Parteien seien wie das Exekutivkomitee den ,, leitenden Gedanken der internationalen Resolutionen" treu geblieben. Es ist aber der Gipfel, wenn die Konferenzen von Wien   und London   als Beweis dafür herangezogen werden. Was haben diese Konferenzen von Entente- oder Dreibunds­sozialisten gemein mit den Internationalen Sozialistischen Kongressen von Stuttgart  , Kopenhagen  , Basel  ? Sie ver­traten das genaue Gegenteil der dort niedergelegten Richt­linien. Sie waren in der Wirkung nichts anderes als die Be­sieglung der neuen Politik nationaler Solidarität an Stelle der internationalen, des Willens zum Durchhalten an Stelle des Friedenswillens, des Mißtrauens gegen die Bruderpar­teien an Stelle des Vertrauens und gemeinsamen Handelns.

Wenn das Erekutivkomitee bis heute gezögert hat, das In­ternationale Bureau in Tätigkeit treten zu lassen, so hat es freilich nur konsequent gehandelt von seinem Standpunkt aus. Es hat sich damit begnügt, wie die Kurie in Rom für die katholische Christenheit, so für das Proletariat das geistige Band" zu bilden, das heißt eine zentrale Stelle für einige unverbindliche Tastversuche. Wie sollten sich auch Vertreter der national gewordenen Parteien unter den Stürmen des Weltkriegs an einen Tisch setzen können, um Richtlinien für internationale proletarische Friedensarbeit aufzustellen? Und wenn sie zusammenfäßen, wäre eine solche Sigung im Zeit­alter des Burgfriedens nicht alles andere, nur nicht eine Aus­cinandersetzung von Genossen, die selbständige sozialistische Politik treiben? Müßte nicht jeder die Gesichtspunkte fest­halten, die ihm von der Rücksicht auf seine nationale Ver­teidigung" vorgeschrieben werden? Würde sich eine solche Konferenz nicht von selbst verwandeln in eine unverbindliche Aussprache zwischen mehr oder weniger offiziellen Vertretern bürgerlicher Regierungen?

Angesichts der vom Krieg geschaffenen Tatsachen nennt das Manifest alle diejenigen Zersplitterungstaktiker, die die Auf­fündigung der nationalen Klassenharmonie zur Voraus­setzung fruchtbarer internationaler Friedensarbeit machen. Haben diese Genossen nicht lange genug die großen Parteien vergeblich zur Umkehr gemahnt und von dem Internatio­nalen Bureau die erlösende Parole erhofft? Freuen wir uns, daß sie den Mut und die Entschlossenheit gefunden haben, den Kern höher zu stellen als die Schale und nicht mehr zu warten, bis die schlafenden Führer aufwachen und Öl auf ihre erloschenen Lampen gießen. Damit neben dem Tragischen das Lächerliche nicht fehle, erlaubte sich das Manifest den Scherz zu schreiben:" Bum Ärger dieser Genossen" habe die zweite Internationale nie aufgehört zu wirken. Die Parteien hätten ihr Auftreten während des Krieges in der Richtung ihrer Entwicklung" fortgesetzt. Worin das Fortwirken be­stand, haben wir oben angedeutet. Aber darin hat das Mani­fest recht: die nationalistisch gewordenen Parteien haben sich wirklich nur in der Richtung ihrer Entwicklung" weiterbe­wegt. Die längst begonnene innere Berseßung ist nach außen in Erscheinung getreten. Denn auch Verwesung ist eine Art Enwicklung.

Mr. 18

,, Nur" über den Zeitpunkt des Friedens bestehe Uneinig­keit zwischen den Parteien, sagt das Manifest. Und wegen dieses Zeitpunktes sollten sozialistische Parteien sich nicht einigen können? Was liegt in Wirklichkeit den verschiedenen Auffassungen des Zeitpunktes zugrunde? Warum spielt der Zeitpunkt eine so entscheidende Rolle? Die Zeitpunktsfrage ist doch nichts anderes als der Ausdruck für die unvereinbare Gegensätzlichkeit der imperialistischen Kriegsziele, für die Fragen nach Grenzsicherung, Kolonialbesiz, Wahrung soge-. nannter Entwicklungsmöglichkeiten und so fort. Diese impe­rialistischen Gegensäße verlieren nichts von ihrem unversöhn­lichen und habgierigen Charakter, auch wenn sie mit Phrasen verkleidet werden wie Demokratisierung Europas  , Zerstörung des Militarismus, Freiheit der Meere und so fort. Auch die alte Utopie von dem dauerhaften Frieden" unter der Herr­schaft des kapitalistischen   Wirtschaftssystems treibt sich int Manifest gespensterhaft herum. Es stellt sich ja auf den Boden derer, die nicht nur den jezigen Krieg beendigen, sondern mit einem Schlage auch jeden zukünftigen Krieg unmöglich machen wollen, und die deshalb den Zeitpunkt für einen Friedensschluß nicht für geeignet halten. Den Zeitpunkt für einen dauernden Völkerfrieden will man also erwarten mit dem Schwert in der Hand und im Gefolge seiner Bourgeoisie, unter der Leitung der kapitalistischen   Regierungen, von denen man demokratisches Gnadenbrot hofft und in deren Ressorts sozialistische Geiseln sitzen.

Die Maifeier 1916.

Schon zum zweitenmal hat sich unter Kanonendonner und Kriegs­geschrei der Weltfeiertag des um seine materielle wie geistige Erlösung ringenden Proletariats gejährt. Trotz aller Verwirrung und Zer­splitterung, trotz Fesseln und niederdrückendem Elend ist er nicht ganz spurlos an den arbeitenden Massen vorbeigegangen. Wo immer es Sozialisten gibt, die sich ihrer alten Ideale und Grundsätze bewußt geblieben sind, da haben sie wenigstens den Versuch ge­macht, an diesem Tage der Welt zu zeigen, daß der Gedanke der proletarischen Völkerverbrüderung trotz allem Haß und Streit der Machthaber und Verblendeten keine überwundene Phantasterei ist, daß der Baum des Sozialismus, obwohl vom Blik getroffen und zerspalten, doch von neuem grünt und blühende Maienreiser her­vortreibt. In den neutralen Ländern, wo von eisernem Druck des Belagerungszustandes frei die Arbeiterklasse größere Bewegungsmöglichkeiten besitzt, hat die Maifeier naturgemäß den Charakter öffentlicher und imponierender Friedensdemonstra tionen getragen.

In der Schweiz   fanden, wie es sich gehört, an allen Orten Festversammlungen und Demonstrationsumzüge statt. Die Be­teiligung war, wie die Parteipresse mitteilt, weit reger als im Vorjahr, ein Zeichen, wie sehr die grundsäßlich geflärte Stellung­nahme der dortigen Partei die Massen aufzurütteln und mitzu­reißen beginnt. Nur eine Partei, die sich rührt und kämpft, die sich hohe Biele stedt und mit Entschiedenheit dafür eintritt, die das Kompromiß berwirft und Klarheit will: nur eine solche Partei wird die Massen hinter sich haben. Auch in der Hauptstadt Rumäniens   haben die Sozialdemokraten den Tag nicht ver­streichen lassen, ohne ihn für den Kampf gegen die Kriegsheber und für den Frieden energisch auszunüßen. Es hat eine öffentliche Ver­sammlung dort stattgefunden, an die sich Straßenkund­gebungen gegenden Krieg anschlossen. Die Demonstration ist ohne Zwischenfälle verlaufen. In der Hauptstadt Spaniens  , in Madrid  , hat die Gewerkschaftsunion der Arbeitergruppe eine bedeutende Kundgebung in den Hauptstraßen veranstaltet.

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Die Maidemonstrationen des holländischen Proletariats galten dieses Jahr in erster Linie dem Friedensgedanten, weiterhin der Aktion gegen die Teuerung, für die Altersversorgung und für die Erringung des allgemeinen Wahlrechts für Männer und Frauen. In allen größeren Orten und vielen kleineren fanden Bersammlungen statt, in einigen auch Straßenumzüge, zu deren Organisation sich die Arbeiterpartei und die im niederländischen Fachverband vereinigten Gewerkschaften verbunden hatten. Beson­ders eindrucksvoll war der Demonstrationszug in Amsterdam  , der etwa 15 000 Teilnehmer zählte. Viel bemerkt wurden die in diesem Friedenszug mitmarschierenden Soldaten. Abends waren die drei größten Säle Amsterdams überfüllt. Eindrucksvoll waren auch die Demonstrationen im Haag und in Rotterdam  . Gleich­