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Die Gleichheit

segung das Bestehen einer Macht, die auf ihre Durchführung dringt, die in der Lage ist, ihre Durchführung zu erzwingen. Voraussetzung der erstrebten internationalen Rechtsord­nung" ist also die politische Macht des sozialistischen Prole­tariats. Wo ist aber heute die zu findèn? Müßte die Konfe­renz sonst die sozialistischen Minister in Frankreich und Eng­land mehr oder minder gelinde zur Ordnung rufen, wäre es sonst notwendig gewesen, die deutsche Sozialdemokratie daran zu erinnern, daß sie zwar viel für sozialpolitische Reformen, herzlich wenig aber für die Erringung einer wirklichen De­mokratie getan habe?

Die Konferenz will, daß die sozialistischen Parteien sich auf dem Boden der Kopenhagener Forderungen zur Verständi­gung bereit erklären. Ihre Resolution spricht, wie Troelstra , von dem historischen Moment", der nicht verpaßt werden dürfe, wenn man nicht wolle, daß der Friede von den impe­rialistischen Gruppen diftiert werde. Es fragt sich nur, inwie­fern manche sozialistischen Parteiinstanzen nicht bereits durch Wort und Tat zu jenen imperialistischen Gruppen zu zählen find. Die Parteien sollen versuchen, sich direkte Teilnahme an den Friedensverhandlungen zu sichern. Auf dem Friedenskon­greß sollen die Parlamente und Vertreter sozialdemokratischer Gruppen vertreten sein. Auch darin wieder teilt die Konferenz jene alte Illusion von dem Werte der positiven Mitarbeit einzelner, die im Ministerialismus so grausam Lügen ge­straft worden ist. Gewiß soll die Sozialdemokratie verlangen, ihrer Macht entsprechend bei allem mitreden zu dürfen, aber ihre wirkliche Macht liegt eben nicht in den Ministerien und Beratungszimmern. Ein kleiner Satz, der in der langen Re­solution fast verschwindet, deutet den wahren Machtboden der Sozialdemokratie an: Sie soll ihren Einfluß im Volk aus­nüßen." Ist die reale, tatbereite Macht in den breiten, ar­beitenden Massen vorhanden, so wird der Sozialdemokratie alles übrige von selbst zufallen.

Ein Charakteristikum der Konferenz ist, daß sie sich immer nur an die Instanzen wendet; sie hält es für nötig, ausdrück­lich zu protestieren gegen jeden Versuch, das Vertrauen des sozialistischen Proletariats in seinen Parteien und Organisa tionen zu erschüttern, in diesen Spaltungen herbeizuführen und neue internationale Organisationen... zur Bekämpfung der bestehenden Internationale zu gründen". Es ist dies die Stimme der Parteibureaukratie, die sich selber das Vertrauen ausspricht. Es ist dies die Methode der bürgerlichen Bureau­kratie, die die Quelle der Unzufriedenheit nicht so sehr in den bestehenden Mißständen als in dem Gebaren einzelner Nörg­ler und Hetzer" zu erkennen glaubt. Die Spiße des Protests richtet sich offenbar gegen die Zimmerwalder und Rientaler Aktion, gegen die sich Troelstra milde, Branting scharf gewendet hatte. Zwar hatten die den Bimmerwalder Beschlüssen angeschlossenen Parteien ihre Teil­nahme an der Konferenz beschlossen, um ihren Standpunkt dort geltend zu machen, jedoch weder der Schweizer noch die rumänischen Delegierten waren imstande zu erscheinen. Ihren Darlegungen hätten auch schwerlich die Haltung der Kongreßmehrheit geändert. Die Konferenz erwartet alles Heil der Sozialdemokratie und die Wiedergewinnung der po­litischen Machtposition für die Gestaltung des Friedens von den nämlichen Instanzen, die so kläglich versagt haben, von einer gleichsam wunderbaren Wiedergeburt im Schoße des Internationalen Sozialistischen Bureaus und der Partei­leitungen.

Inwieweit lettere der warnenden und mahnenden Stimme der Konferenz Folge leisten werden, zeigte die wenige Tage darauf abgehaltene. Sigung des Nationalrats der französischen Partei, deren Mehrheit auf dem alten unversöhnlichen Standpunkt beharrt. Der deutsche Parteivor st and scheint in seinem Aufruf den Wünschen der Konferenz eher entgegen zu kommen, aber auch er denkt nicht daran, rückhaltlos und offen den Weg nach Damaskus anzutreten. Deutsche Mehrheitspolitiker wie Cu now sind sogar sehr ungehalten, weil die Konferenz der Neutralen un­

Nr. 25 berkennbar mit ihren Sympathien mehr bei den Franzosen steht als bei den Deutschen .

Klarer, energischer, zielbewußter als die politische Reso­lution ist die Entschließung der Konferenz zur Frage der Wirtschaftspolitik. Mit Entschlossenheit wird jeder Gedanke eines Wirtschaftskrieges abgeschüttelt, wird von den Sozia­listen aller friegführenden Länder erwartet, daß sie sich mit derselben Entschiedenheit wie die französische Partei­leitung solchen Absichten entgegenstellen. Die Konferenz spricht sich für den vollen Freihandel aus, der den Weg bahne zur Weltproduktion auf sozialistischer Grund­lage". Die Konferenz wandte sich mit allen Rednern gegen die Versuche, größere wirtschaftliche Staatenverbände zu schaf­fen, die sich durch hohe Zollmauern gegeneinander abschließen. Zusammenfassend kann gesagt werden, die historische Be­deutung der politischen Erörterungen und Beschlüsse der Kon­ferenz im Haag besteht darin, daß sie offen zeigt, wie bange bereits den kühleren und weniger unmittelbar am Kriege be­teiligten Parteiführern vor der so laut proklamierten allein­seligmachenden Burgfriedenspolitik zu werden beginnt. Diese Führer betonen zwar alle kräftig, die Internationale sei nicht tot, aber die Konferenz selber ist nichts anderes als ein be­schwörender Versuch, den abgestorbenen Organen dieses Kör­pers neues Leben einzuhauchen. Ein Selbstbesinnungsprozeß hat auch hier begonnen, ein Selbstbesinnungsprozeß freilich, der das übel heilen möchte, ohne seine Wurzel anzugreifen. Daß aber überhaupt von dieser Seite der Ruf nach Rückkehr zu einer selbständigen, proletarischen Klassenpolitik erhoben wird, ist ein wertvolles Zeichen der Zeit.

Aus der Bewegung.

Eine Jubilarin. Am 31. Auguft wird unfere Berliner Genossin Marie Klingner 70 Jahre alt. Sie verdient, daß man ihrer an diesem Tage gedenkt. Ist sie doch eine der nimmermüden Prole­tarierinnen, die, ohne viel Aufhebens davon zu machen, für die heilige Sache des Sozialismus wirken, deren Leben die Hingabe an dieses Ideal eine höhere Weihe gibt und die Kraft, dem Elend zu troben und es zu überwinden. Denn am Herd unserer Jubi­Tarin hatte die Not ihre bleibende Stätte. Paßt doch auf ihre Eri­stenz, was Chamisso in seinem Gedicht Die alte Waschfrau" sagt: Sie hat in ihren jungen Tagen Geliebt, gehofft und sich vermählt, Sie hat des Weibes Los getragen, Die Sorgen haben nicht gefehlt.

Frühzeitig war Marie Klingner Witwe geworden. Neben der überreichen Bürde an Arbeit und Trübsal hatte sie das Glück, die sozialistischen Lehren kennen und begreifen zu lernen; der Sozia­lismus wurde ihr Glaube und ihre Zukunftshoffnung. Was ihr Herz erfüllte, verstand sie als Mutter in die Seelen ihrer Kinder zu pflanzen, an denen sie nun höchste Freude erlebt. In die Fuß­tapfen der Mutter tretend, wirken sie als treue Anhänger des So­zialismus an dem Werke der Befreiung der Menschheit aus gei­stiger und leiblicher Not mit.

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Bis in den Februar dieses Jahres hinein wo unsere Genoffin einen unglüdlichen Fall tat, an dessen Folgen sie noch heute leidet war sie bei allen Parteiarbeiten mit jugendlichem Eifer tätig. Galt es, säumige Mitglieder an ihre Pflicht zu mahnen oder neue zu werben; galt es, an Versammlungen, Sigungen, Lese­abenden sich zu beteiligen: stets begegneten wir unserer Genossin Klingner als Mitratende und Mittatende. Als 1903/04 unter dem alten preußischen Vereinsgesetz der erste politische Frauenwahl= verein gegründet wurde, trat sie ihm sofort bei und warb eifrig für ihn. Sie tat dies ebenfalls, als später der Frauenwahlverein für die preußischen Landtagswahlen ins Leben gerufen wurde. Sie gehörte der sogenannten losen Organisation der Genossinnen an, die durch regelmäßige freiwillige Beiträge ihre Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei bekundeten. Ganz selbstverständ­lich ist sie auch Mitglied des Vereins für Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse seit dem Bestehen dieser Organisation. Als nach Einführung des Reichsvereinsgesetzes die Genossinnen als Mit­glieder den sozialdemokratischen Wahlvereinen beitreten durften, lernten auch die Genossen das Wirken und die Treue unserer