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Die Gleichheit
tische Verhalten des Kaisers dem Reichstag verantwortlich und zu entlassen sei, wenn dieser es fordere. Weiterhin sah der Gesetzentwurf vor, daß der Reichskanzler in Anklagezustand versetzt und vor einen Staatsgerichtshof gestellt werden könnte. Ein zweiter Gefeßentwurf forderte die Abände rung des Artikels 11 der Reichsverfassung, so daß außer der Zustimmung des Bundesrats auch die des Reichstags notwendig sei zur Entscheidung über Krieg und Frieden. Der ,, Vorwärts" führt an, was die Genossen Singer und Le debour zur Begründung dieser Forderungen sagten.
Genosse Singer erklärte: Notwendig ist eine Verfasfungsänderung, die der Volksvertretung die Entscheidung über Krieg und Frieden in die Hand gibt. Denn in allerletter Linie sind es doch die Kriege, die als Gespenst am Horizont stehen, die möglich werden, deren Gefahr erhöht wird, wenn die unverantwortliche Politik, dieses persönliche Regiment in Deutschland weitergetrieben wird. In letter Linie hat doch auch das deutsche Volk Leben, Gesundheit, Gut und Blut zu Markte getragen, wenn sich durch eine solche unverantwortliche Politik, durch solche Vorgänge die Situation zugespigt hat.... Wir brauchen ein Minister-, ein Reichskanzlerverantwortlichkeitsgeseh.... Dem Reichstag muß das Anklagerecht gegen den Reichskanzler zustehen.... Die Volksvertretung muß in der Lage sein, durch ihre Organe zu Gericht zu sißen über die Politik des verantwortlichen Ministers, und die öffentlichen Gewalten Deutsch lands müssen sich durchdringen lassen von der überzeugung, daß die deutsche Volksvertretung ein Recht hat, neben dem Monarchen, neben dem Bundespräsidium die Geschicke des Reiches zu leiten.... Wir müssen dabei auch verlangen, um den Einfluß der Volksvertretung auf die auswärtige Politik, auf die Reichsleitung zu sichern und zu stärken, daß der Reichstag selbst bei der Ernennung des Reichskanzlers mitzuwirken berufen ist."
Die Verfassungskrise blieb ein Sturm im Glase Wasser. Der Anlauf zu einer Reform der Verfassung, zur Demokratisierung der Regierungsgewalt kam nicht über Kommissionsberatungen hinaus. Die Radikalkur" unterblieb. Die Ereignisse haben uns aber seither mit wünschenswerter Dentlichkeit gelehrt, daß auch die damals geheischten, selbstverständlichen und dringend nötigen Reformen allein noch gar feine„ Radikalfur" find. Sie erscheinen nur als solche, wenn man die politischen Dinge unter dem engen Gesichtswinkel des bürgerlichen Parlamentarismus betrachtet. In Frank reich und sogar in gewissem Maße, wenn auch weniger, in England, dem Mutter- und Musterland des bürgerlichen Barlamentarismus, hat der Imperialismus die Volksvertretung an seinen Wagen gespannt, hat er das Parlament in eine verschwiegene und schweigsame Dunkelfammer verwandelt, hat er die wirklich entscheidende und regierende Macht in die Hand einer kleinen Minderheit gelegt.
Gewiß: die Führer aller Parteien haben teil an ihr, an der Regierungsgewalt, das Recht der Entscheidung und die Pflicht der Verantwortlichkeit stehen einem weiteren Kreise zu als der Gilde der zünftigen Bureaukraten und Diplomaten allein. Aber was besagt das letzten Endes, wie die Dinge heute liegen? Daß neben die zünftigen Diplomaten und Bureaukraten die nicht weniger zünftigen Berufspolitiker treten, die mehr oder weniger stark, mehr oder weniger bewußt der Gefahr jener Verknöcherung unterliegen, die Mary als den parlamentarischen Kretinismus gegeißelt hat. Es besteht nicht die richtige belebende Wechselwirkung zwischen den sogenannten Führern im Parlament und den Volksmassen außerhalb des Parlaments. Dieses ,, macht" die Politik für die Massen statt durch die Massen und mit den Massen. Denn noch fehlt es an der wichtigsten Kraft einer blutvollen Demokratie: an breitesten Massen des arbeitenden Volkes, die reif an Erkenntnis und Willen sind; an Massen, die sich nicht führen lassen, sondern die vorantreiben.
Solange nicht solche Massen den Lauf des politischen Lebens lenken, wird auch in allen Staaten die vollkommenste
Nr. 2
Form der parlamentarischen Regierung, der Demokratie ein übertünchtes Grab bleiben, vor dem die politischen, die parlamentarischen Auguren mit einem verständnisvollen Lächeln einander grüßen. So bitter not gerade in Deutschland die Demokratisierung der Zustände tut, so energisch dafür gefämpft werden muß, worauf es ankommt, bleibt die Umbildung des Proletariats zu einer klassenbewußten Macht, in der jeder einzelne seines Rechtes und seiner Pflicht, seiner Verantwortlichkeit bewußt bereit ist, Wissen und Wollen in Tat umzuseßen. Diese Macht allein wird die Demokratie aus einem blutleeren Schemen, aus einer glänzenden Kulisse für die Interessen der besitzenden Schichten in kraftstrogende fruchtbare Wirklichkeit verwandeln. Damit erst ist die so vielberufene ,, Neuorientierung" der Heimatspolitik in der geschichtlich gewiesenen Richtung zum Sozialismus verbürgt; damit erst auch die Möglichkeit gegeben, in der Auslandspolitik jene stolze Aufgabe zu erfüllen, die die Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation gewiesen hat. Nach ihren Worten ist es die Pflicht der brüderlich geeinten Arbeiterklasse aller Länder, den Mysterien der internationalen Staatskunst nachzuspüren, die diplomatischen Streiche ihrer Regierungen zu überwachen, ihnen nötigenfalls mit aller Macht entgegenzuarbeiten und, wenn außerstande, den Streich zu hindern, sich zu gleichzeitiger öffentlicher Anklage zu verbinden und die einfachen Geseze der Moral und des Rechtes zu verkünden, die ebensowohl die Beziehungen einzelner regeln als auch für den Verkehr der Nationen die obersten Geseze sein sollten. Der Kampf für solch eine auswärtige Politik bildet einen Teil des allgemeinen Kampfes für die Emanzipation der arbeitenden Klassen."
Delegiertenversammlung
des Schweizerischen Arbeiterinnenverbandes. In Olten hat am 9. und 10. September die ordentliche Telegiertenversammlung des Schweizerischen Arbeiterinnenverbandes stattgefunden. Sie war von 45 Delegierten und 36 Gästen besucht, Vertretern der Partei, von Gewerkschaftsverbänden und den lokalen Oltener Organisationen. Aus dem Ausland waren Begrüßungsschreiben eingegangen von den Genofsinnen 3ettin, 3iez( Berlin ), Ankersmit ( Amsterdam ), Saumoneau( Paris ) und Longman ( London ). Sie betonten die internationale Solidarität der sozialistischen Frauen, ihr Festhalten an den Grundsäßen des Sozialismus und wurden beifällig aufgenommen.
Der Bericht des Zentralvorstandes erwies den Eifer, die Rührigkeit der Verbandsleitung. Er konnte feststellen, daß der Schweizerische Arbeiterinnenverband sich im letzten Jahre außerordentlich günstig entwickelt hat. Die Zahl seiner Sektionen ist mit 19 auf 39 gestiegen, die zusammen 2100 Mitglieder umschließen. Dabei ist die Frauengruppe eines Ortes nicht mitgerechnet. Am Sozialdemokratischen Frauentag wurde in vierzig Versammlungen die Forderung erhoben: Volle politische Gleichberechtigung der Frauen und gleicher Lohn bei gleicher Leistung, ohne Unterschied des Geschlechts. Gegen die Verhaftung der internationalen Sekretärin protestierten 15 Versammlungen. Zur Förderung der Zwecke des Arbeiterinnenverbandes erhält dieser von der sozialdemokratischen Partei einen Jahresbeitrag von 600 bis 1000 Franfen. Um ein stetes Handinhandarbeiten der Frauenorganisation und der Partei zu ermöglichen, entsendet die Geschäftsleitung der schweizerischen Sozialdemofratie in die Sigungen des Verbandsvorstandes regelmäßig eine Vertretung, die Genofsinnen werden ihrerseits durch ein weibliches Mitglied in der Geschäftsleitung der Partei vertreten. Die Zentralfasse des Arbeiterinnenverbandes hatte im Jahre 1915 eine Gesamteinnahme von 2529,13 Franken und eine Ausgabe von 2427,33 Franken, das Vermögen betrug Ende 1915 1334,88 Franken, der Pressefonds 527,20 Franken. Der gedruckte Jahresbericht des Zentral