Nr. 22

A. g. XIII

27. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für Arbeiterfrauen und Arbeiterinnen

Mit der Beilage: Für unsere Kinder

Die Gleichheit erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig. Jahres- Abonnement 2,60 Mark.

Stuttgart  3. August 1917

An der Schwelle des vierten Kriegsjahrs. Drei fürchterliche Jahre des gewaltigsten und entsetzlichsten Krieges, den die Menschheit je gesehen, liegen hinter uns. Sie schließen so viel des Grauenhaften, so viel des Elends, der Sorge, der Duldung in sich, daß man sich wie unter einem gräßlichen Alpdruck windet, wenn man sich die Summe alles dessen vergegenwärtigt, was Menschen in diesen drei Jahren ertragen haben. Tränen findet die Menschheit kaum noch, selbst dieser Trost ist ihr versagt wie dem einzelnen, den tiefster Schmerz zu tränenloser Starrheit versteinert.

Keine dringlichere Aufgabe gibt es, als diesen Krieg zu beenden. In allen Ländern schreien die Völker in gleicher qualvollster Sehnsucht nach dem Frieden. Hinter dieser Not­wendigkeit muß alles andere zurücktreten. Auch das, was für uns Sozialdemokraten das Höchste und Wertvollste ist: die Sorge um die engeren Parteiinteressen. Wer sie höher stellt als die rastloseste, unermüdlichste Arbeit für den Frieden, ist ein engherziger Parteifanatiker und versündigt sich an der Menschheit.

Von dieser Erwägung ist die sozialdemokratische Reichstagsfraktion ausgegangen, als sie vor drei Wochen wieder zusammentrat. Von dieser Erwägung. hat sie sich während dieser Tagung leiten lassen. In diesem Sinne hat sie getan, was sie zu ihrem Teil vermochte, um Deutsch­ land   und der Welt den Frieden näherzuführen.

Wochen voller tiefgreifender Erregung, voller atemberau bender Spannung, voller wichtiger Handlungen und Entschei­dungen haben wir in diesem Juli durchlebt. Anders ist die Tagung verlaufen, als die Regierung sie sich wahrscheinlich gedacht hatte. Nach drei bis vier Tagen hätte nach ihrem Plan der Reichstag   wieder auf vier bis fünf Monate nach Hause gehen und die Regierung dann ungehindert vom Reichstag ihre Kriegspolitik fortsetzen können.

Es ist anders gekommen. Ganz anders! Und gerade wenn man den völlig anderen Gang der Dinge mit dem im voraus angenommenen vergleicht, erkennt man klar die außerordent­liche Bedeutung der diesmaligen Reichstagstagung.

Bei ihrem Beginn stand noch Bethmann Hollweg   als Füh rer des Deutschen Reiches ant Steuer, ihr Schluß sieht einen neuen Mann, Michaelis, bei seinen ersten Versuchen, die un­geheure Last dieser Verantwortung zu tragen. Bei ihrem Be­ginn gab es noch die zersplitterten Parteien im Reichstag, die sich in der wichtigsten gegenwärtigen Frage, der Kriegs­zielfrage, schieden in die sozialdemokratische Partei auf der einen Seite mit dem Ziel eines baldigen Friedens der Ver­ständigung und in die gesamten bürgerlichen Parteien auf der anderen Seite mit dem offenen oder verschleierten Ziel, den Krieg um Ländergewinns wegen weiterzuführen; ießt, am Schlusse der Tagung, hat die Vereinheitlichung des deut­ schen   Parteiwesens einen Schritt vorwärts gemacht, indem sich in der Kriegszielfrage die beiden großen Parteien des Zentrums und der Fortschrittlichen Volkspartei   mit der So­zialdemokratie zu einem festen Block zusammengeschlossen und

Zuschriften sind zu richten

an die Redaktion der Gleichheit, Berlin   SW 68, Lindenstraße 3. Fernsprecher: Amt Moripplag 14838. Expedition: Stuttgart  , Furtbachstraße 12.

in einem gemeinsamen Votum, mit 214 gegen 116 Stimmen, als das Kriegsziel des deutschen   Volkes in seiner über­großen Mehrheit den baldigen ehrenvollen Verständigungs­frieden ohne irgendwelche Vergewaltigungen aufgestellt ha­ben. Bei Beginn der Tagung gab es nur laue und unklare Versprechungen in der Frage der inneren Neugestaltung Deutschlands  ; jetzt aber haben wir die bündige Erklärung der Regierung, daß die nächsten Wahlen zum Preußischen Landtag nach dem gleichen Wahlrecht erfolgen werden.

Denkt nicht, ihr deutschen   Arbeiterfrauen: was geht das uns an! Was hilft das uns in unserer großen Seelennot! Denkt nicht so, um euretwillen in erster Linie ist ja ge­schehen, was geschehen ist! Eure Herzzerreißende Not, die von den sozialdemokratischen Vertretern im Hauptausschuß des Reichstags mit beredten Worten und mit den ernstesten War­nungen an die Regierenden geschildert worden ist, sie war es vor allem, die auch den bürgerlichen Parteien gezeigt hat, was alles auf dem Spiele steht, wenn der Deutsche Reichstag sich nicht zu entschlossenen Taten aufrafft und die Regierung zwingt, seiner Entschlossenheit zu folgen.

Den Frieden selber vermag euch auch der Reichstag   freilich nicht von heute auf morgen zu bringen. Es ist ein ungeheuer schwieriges Werk, den Ausweg aus diesem Völkertoben zu finden und die feindlichen Regierungen auch nur zunächst einmal an den Verhandlungstisch zu bringen. Diesem Zwecke dient einerseits die Kriegführung selber, die den feindlichen Re­gierungen zeigen muß, daß sie mit Waffengewalt Deutschland  nicht niederzwingen können. Andererseits aber muß eine ent­schieden friedensbereite Politik das Ihre tun. Daran hat es Deutschland   gewiß nicht fehlen lassen, im löblichen Gegensatz zu den feindlichen Ländern, die noch immer von neuem wie­der ihre Niederschmetterungspläne verkünden. Aber diese Po­litik war nicht klar und eindeutig genug. Hierin Wandel ge­schaffen zu haben, vor aller Welt von der Tribüne des Deutschen Reichstags aus, der berufe. nen Vertretung des deutschen   Volkes, den ehrlichen, durch keine Hinterhältigkeit ge. trübten Willen zum Frieden ausgesprochen zu haben, darin liegt die hohe Bedeutung der diesmaligen Tagung des Reichstags.

So treten wir in das vierte Kriegsjahr ein. Mit einem Herzen voller Kummer und Empörung zugleich, Kummer über die andauernde Verwüstung kostbarsten Gutes und Blutes, Empörung über die entsetzliche Tatsache, daß die Menschen nicht die Kraft finden, sich von dem Kriege zu be­freien. Aber in die düstere Sorge und den Zorn mischen sich doch auch schwache Lichter der Hoffnung, daß der Friede auf dem Wege ist. Und leichter tragen wir die unendlich schwere Bürde, weil wir das gute Gewissen haben, zu unserem Teil wieder getan zu haben, was die Stunde von uns fordert zur Abkürzung des Krieges, und weil wir hoffen dürfen, daß die offene und ehrliche Hand zum Frieden, die das deutsche Bolk den feindlichen Völkern entgegenstreckt, diesmal nicht wieder übersehen werden kann.