Nr. 3

Die Gleichheit

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Eine Erziehungsorganisation.

Van Emmy Freundlich in Wien  .

1. Das Ziel.

Die Sozialdemokratie keines Landes hat jemals vergessen, daß es für sie von der größten Bedeutung ist, wenn sie auf die Er­ziehung aller Altersstufen entscheidenden Einfluß zu nehmen ver­mag. In allen Ländern, wo es organisierte Arbeiter gibt, hat ge= rade vor dem Weltkrieg eine außerordentlich intensive Erziehungs­arbeit begonnen, die selbst im Weltkrieg nicht vollständig aufgehört hat. Hand in Hand damit ist auch die Erziehung der Jugend ge­gangen, und die zunehmende Zahl der internationalen Versuche, be­sondere Schulen für den Sozialismus zu schaffen, haben beredtes Zeugnis von dem Wissensdrang auf der einen und dem Erziehungs­drang auf der anderen Seite abgelegt. Aber je mehr wir die schul­entlassene Jugend erziehen, um so mehr müssen wir erkennen, wie außerordentlich wichtig es ist, daß auch die Schuljugend nicht voll­ständig sich selbst oder fremden, auch den eigenen Eltern fremden Einflüssen überlassen bleibt. Vieles, was der Heranwachsende nur mit Mühe lernt, fann das Kind mit der Luft einatmen, die es um­gibt. Deshalb sind die Kämpfe um die Schulreformen in den meisten Ländern, vor allem in Deutschland  , vor dem Krieg sehr lebhafte gewesen es sei nur an die Schulreform des sächsischen Landtags erinnert, und die Zahl der theoretischen Erziehungsschriften hat beständig zugenommen. Man sah immer mehr ein, daß das Wort der Agitation, die Eltern sollten die Kinder im sozialistischen   Sinne erziehen", nicht genügen kann, daß wir auch hier die Voraussetzungen schaffen müssen, die endlich das Ziel erreichen sollen. Es ist nicht zu leugnen, daß heute die Eltern aller Klassen von der Erziehung der Kinder wenn sie Eltern werden sehr wenig verstehen, und daß sehr wenige auch der gebildeten Menschen lernen, gute Eltern zu sein, weil die wenigsten Menschen sich kritisch Rechenschaft über ihr Tun geben. Um so dringender ist es, daß auch hier die Organisation vermittelnd eingreift und den Eltern die Wege ebnet und ihnen Ziel und Art sucht und vermittelt.

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Zu diesen rein theoretischen Erkenntnissen tam noch ein sehr prak­tisches Moment. Es hat die zehmende Lebensmittelteuerung vor dem Krieg und die zunehmilioe Erwerbsarbeit der Mütter die Ver­nachlässigung und Unterernährung der Kinder außerordentlich be­günstigt, so daß die schweren gesundheitlichen Schäden immer fühl­barer wurden. Der Verelendung der Kinder konnte auch die bürger­liche Gesellschaft nicht tatenlos gegenüberstehen, sie mußte einsehen,

Feuilleton

Der Haß, den man auf erloschene Freundschaft pfropft, muß unter allen die tödlichsten Früchte bringen. Leffing.

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Glücklich heißt, wer sorgenfrei. Glücklicher doch, mein ich, sei,

Wer voll Sorgen, wenn's die rechten: Sorgen, andrer Leid zu mindern,

Sorgen, Unrecht zu verhindern,

Für fremden Wert den Kranz zu flechten; Sorgen, in den schwersten Tagen

Fremde Sorgen selbst zu tragen.

Eine Jdylle im Kriege.

A. Grün.

Aus dem Kriegstagebuch des flämischen Dichters Stijn Streuvels  . ( Aus dem Flämischen   übertragen von Paul Wolf.) 17. August 1914. Frühmorgens vor Sonnenaufgang, als die weite Flur, die endlosen Felder noch unter der lichtdurchschimmerten Luft schlum­merten, saß ich am offenen Fenster. Es war die Zeit, wo das Wunder des allgemeinen Erwachens vor sich geht und aus dem Schimmer sich die Helle des neuen Tages entfaltet. Eine Stimmung der Ruhe über dem ganzen Gefilde. Ringsum noch kein lebend Wesen zu ge= wahren. Die Früchte des Feldes wuchsen in der wohltuenden Labsal des frischen Taues.

Still bewunderte ich das Schauspiel, als meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes, sich Bewegendes, gelenkt wurde: Also doch schon so frühe Menschen wach und an der Arbeit!

Ein junger Bursche und ein Mädchen, die auf einem Streifen Land zwischen einem Klee- und Kornstück die Erdrolle zogen. Sie waren aus der rechten Ecke meines Gesichtsfeldes aufgetaucht, über­

daß ihre Wehrkraft und, was noch gefährlicher ist, ihre Arbeitskräfte verlorengehen, wenn man die Kinder zugrunde richten läßt. Es sind in den letzten Jahren vor dem Krieg und nun erst recht während des Krieges eine Fülle von Fürsorgeeinrichtungen für die prole­tarischen Kinder entstanden, Kinderschußkongresse wurden abgehalten, und Geld und Arbeit wurde dieser Sache gewidmet. Vieles, was begonnen wurde, war verfehlt, vieles blieb bei dem besten Willen hinter den gehegten Hoffmungen zurück, und meist stand die Summe der Mühe und der Arbeit im umgekehrten Verhältnis zu dem ge= wünschten Erfolg. Dazu kam aber eine neue Gefahr für die Ar­beiterschaft. Die Kinder, die dieser öffentlichen Fürsorge übergeben wurden, auch wenn nicht klerikale Einrichtungen in Frage gekommen sind, wurden dem proletarischen Familienleben entfremdet, sie wur­den geradezu entwurzelt; die meisten Stinder sind, nachdem sie aus diesen Instituten entlassen waren, ihrer Klasse fremd gewesen, aber ebenso fremd standen sie allen anderen Klassen gegenüber. Viele haben dann erst Schiffbruch gelitten, weil sie nirgends Anschluß und Teilnahme zu finden vermochten. Nun kann es dem Proletariat nicht gleichgültig sein, wie seine Kinder erzogen werden, und das hat ja überall zum Kampf um den Einfluß auf die Schule und die öffentliche Jugendfürsorge geführt. Aber man darf nicht verkennen, daß auch hier, wie auf allen anderen Gebieten des praktischen und des wissenschaftlichen Lebens, das Proletariat seine eigenen Wege finden muß. Aus dem reichen und vielseitigen Born der bürgerlichen Pädagogik muß es das schöpfen, was seinen Zielen und seiner Welt­anschauung immanent ist, und aus diesen Fundamenten muß es seine eigenen Tempel bauen. Wie wir heute eine eigene Ökonomie des Sozialismus haben, so müssen wir auch eine eigene Pädagogik schaffen. Das kann niemals das Wert eines einzelnen Menschen sein, das wird immer die gesichtete Erfahrung der praktischen und der wissenschaftlichen Arbeit vieler sein müssen. Vieles an wissenschaft­licher Arbeit ist geleistet worden, viele praktische Versuche des inter­nationalen Proletariats liegen vor. Nun heißt es das Werk durch den großen Bau einer einheitlichen Erziehungslehre und ihrer prak­tischen Organisation frönen.

Praktisch hat nun unsere junge Drganisation der Kinderfreunde, eine Organisation, die vorderhand nur in Österreich   besteht, außer­ordentlich viel geleistet. Ihr Initiator und Gründer Genosse Affritsch in Graz hat das Herz für die Kinder, und mit dem Herzen hat er vieles gefunden, das für die weitere Entwicklung der Erziehungs­methode außerordentlich wertvoll sein wird. Die reiche Fülle an praktischer Arbeit, die in Graz und in den letzten Jahren vor allem querten dessen ganze Breite und verschwanden hinter seinem linten Rande. An der Schlankheit ihrer Körper, ihrem Gang und ihren Gebärden merkte ich, daß beide noch sehr jung waren. Doch schienen sie emfig an ihrer Arbeit und schritten hurtig, bornübergeneigt für baß. Von links ging es wieder nach rechts und umgekehrt.

Ich achtete ferner nicht mehr darauf. Ließ meine Blicke höher in den Raum hinausschweifen, den Wechsel in den perlmutternen Farben der Wolken betrachtend, die sich jetzt auftürmten zu einem Triumph­bogen mit goldenen Rändern, durch den alsbald die Sonne hin­durchziehen mußte.

Db inzwischen mit den beiden Landkindern irgend etwas vor­gegangen war, hatte ich nicht bemerkt. Meine Andacht wurde jedoch wieder auf sie gelenkt, weil das regelmäßige Hin- und Hergehen aufgehört hatte. Das Mädchen saß kniend, den Oberkörper auf­gerichtet, schlank wie ein Reh. Der Bursche stand, die Hände hinter dem Rücken am Querstock der Zugstange, fich gegen diese anlehnend. Gehobenen Kinns saß das Mädchen und sah den Jungen dring lich, neckisch- herausfordernd an. Da auf einmal, wie von einer Feder emporgeschnellt, springt das schalte Ding auf und bevor er sich's versehen und es hätte wehren können, hängt es an seinem Hals und umfängt seinen Leib. Schmiegsam wie ein Eichhörnchen gleitet es alsdann herab, nimmt seine vorige Haltung ein und spielt mit den Händen achtlos im Sand.

Wie das Mädchen da sizt, zeichnen der schlanke Hals und der feine Schnitt seines Gesichts, die längs seines zarten Körpers nie. derhängenden Arme sich wie eine Tanagra auf einem Hintergrund von Ménard ab.

Der Bursche gleicht in seiner gelassenen Haltung, geneigten Kopfes aufrechtstehend und sie unbewegt anschauend, einem Antonius in Ruhe.

Auf dem erhobenen Antlitz des Mädchens liegt deutlich der Aus­druck eines Begehrens oder des schelmischen Erbittens einer Gunst. Und im Niederblicken scheint der Junge gütig abzuwarten, bis der nedisch- stürmische Geist des Mädchens sich legt.

Sie rühren sich nicht und so bleibt der Ausdruck in ihren Ge­stalten, gleichsam versteinert wie in einem Bild. Es erscheint wie