Nr. 9

Die Gleichheit

Der Artikelschreiber berichtet von den angeblich viel beweih­räucherten Kriegsflickwerkstätten in Reutlingen . Meines Wissens ist noch nie von mir oder von einer anderen Seite in Zeitungen und damit in der Öffentlichkeit über die Einrichtung der Kriegsflickwerk stätten im Zusammenhang berichtet worden. Der Herr R. gibt mir jest wenigstens Gelegenheit, über die Entstehung und den Zweck der Kriegsflickwerkstätten der Öffentlichkeit einiges mitzuteilen.

Bei Ausbruch des Kriegs hatten wir in Reutlingen mit einer großen Arbeitslosigkeit in sämtlichen Betrieben der Textilindustrie zu kämpfen. Die Arbeiterinnen mußten sich nach anderen Arbeits­möglichkeiten umsehen, denn die nur einem Teil zukommende Ar­beitslosenunterstügung mit 1 Mt. pro Tag reichte bei weitem nicht aus, die Bedürfnisse für den Lebensunterhalt zu decken.

Die Konfektionsindustrie in Reutlingen war mit Heeresaufträgen reichlich bedacht. Dorthin flüchteten nun die beschäftigungslosen Tertilarbeiterinnen, und zwar vorwiegend in die Heimarbeit, und nähten den Unternehmern Drillichhosen und Drillichjacken das Stück für 11 bis 18 Pf., dabei mußte der Faden noch von den Arbeite­rinnen bezahlt werden.

Von einem helfenden Eingreifen der Stuttgarter Lei­tung des Textilarbeiterverbandes haben wir damals in Reutlingen mit dem besten Willen nichts wahrnehmen tönnen. Die Spaltung der Parteibewegung in Stuttgart und die Streitfrage wegen der Kriegskreditbewilligung schien damals für die Leitung des Textilarbeiterverbandes viel wichtiger zu sein als die Wahrung der Interessen der Textilarbeiterinnen.

Nachdem von der Organisation nicht der geringste Versuch zur Verbesserung der Lage der Textilarbeiterinnen gemacht wurde, nahm das Reutlinger Gewerkschaftskartell auf meine Veranlassung hin sich der Textilarbeiterinnen an und beauftragte mich, mit den maßgeben­den Instanzen in Verbindung zu treten, um unter Ausschluß des Unternehmertums direkte Aufträge für die beschäftigungslosen Kriegerfrauen von der Heeresverwaltung zu erhalten. Nach manchen vergeblichen Bemühungen erhielten wir durch die Arbeitsvermitt lungsstelle der Bentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg , der wir für ihre Mithilfe zu Dant verpflichtet sind, in vierzehn Monaten für 300 000 Mt. Arbeiten zugewiesen. Bis zu 500 Frauen konnten nach und nach beschäftigt werden. Leider waren aus Mangel an Stoffen die Aufträge während dieser Zeit nicht immer fortlaufend. Die Frauen erhielten ohne irgendeinen Abzug für Faden oder an­dere Materialien den vollen Arbeitsverdienst. Für eine Drillichjacke erhielten die Arbeiterinnen 90 Pf.( früher 11 bis 18 Pf.!), für eine

Frühlingssehnsucht.

Schaden bringst, Winter, du uns überall: Felder und Wälder sind beide nun kahl. Früher war dorten manch lieblicher Hall. Säh ich die Mägdlein am Weg doch den Ball Werfen, so täm uns der Vögelein Schall. Möchte verschlafen im Winter die Zeit! Wach ich so lange, so schafft es mir Leid, Daß seine Macht ist so weit und so breit; Wahrlich! er weicht noch dem Maien im Streit: Blumen dann pflück ich, wo's früher geschneit! Walther von der Vogelweide .

Volkserziehung

W. S. ,, Es gibt doch so viel zu sehen!" Augen haben wir alle, aber nur wenige üben sich in der Kunst des Sehens. Sie gehen von tiefen Gedanken bewegt oder häufiger wohl von der Gedankenlosig teit beherrscht durchs Leben, haben beide Augen weit offen und blicken doch über so unendlich viel hinweg. Wer es nicht glaubt, mache die Probe. Schaut nur einen Tag auf dem Weg oder auf der Fahrt zur Arbeit recht aufmerksam um euch, und ihr werdet gewiß mancherlei entdecken, was euch sonst entging. Fragt irgendeine Freundin nach der Farbe der Haustüre, die sie seit Jahren täglich öffnet, nach dem Muster ihrer Zimmertapete, nach der schönen oder üblen Aussicht aus ihrem Fenster, und seid gewiß, nur wenige werden so zuverlässig schildern können, wie sie dies etwa bei dem neuen Kleid und dem neuen Hut ihrer Nachbarin zu tun vermöchten. Ihr Blick ist stumpf, ihre Beobachtungsgabe schwach, vielleicht in Haft und Not so geworden, vielleicht nie anders gewesen.

Mütter, lehrt eure Kinder sehen! Ihr erleichtert und verschönt ihnen das Leben, ihr bereichert sie, ihr stärkt sie im Stampfe ums Dasein. Wenn ihr mit ihnen durch die Straßen, durch den Park, durch Wald und Wiesen geht, zeigt ihnen, was ihr selber seht, und

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Drillichhose anfertigen 1 Mt.( früher vom Unternehmer 15 Pf.!) - Als unsere Einrichtung zum Nußen der Arbeiterinnen sich bewährte, kam eines Tags der Gauleiter des Tertilarbeiterverbandes, Herr Hoschka, zu mir und sagte, daß die Verbandsleitung in Göppingen eine ähnliche Einrichtung schaffen möchte, und ersuchte mich um meinen Rat, den ich bereitwilligst gab, denn ich bin immer für praktische Arbeit; im stillen freute ich mich über die allmählich, wenn auch spät erwachende Erkenntnis der Gauleitung.

Mit der Stofffnappheit des Sommers 1916 standen wir mit unseren 500 Nähterinnen vor der größten Not. Dann kam unerwartete Hilfe. Frau Anna Lindemann, die von den Radikalen soviel angerempelte Frau unseres Genossen Lindemann, hat uns ihr reiches organisa torisches Können zur Verfügung gestellt und damit bei der Heeres verwaltung die Instandsetzung der Wäsche und Uniformen für das XIII. Königlich Württembergische Armeekorps durch die von den Ge­meinden und Hilfsverbänden geschaffenen Arbeitsstellen durchgesezt. Die Privatunternehmer wurden dann wiederum ausgeschaltet.

In Reutlingen bezahlte ein Fabrikant Pf., früher mechanischer Wirfereibetrieb, für Instandsetzungsarbeiten einen Stundenlohn von 11 bis 20 Pf. Die Leitung des Textilarbeiterverbandes hielt es nicht der Mühe wert, an diesen Lohnsägen etwas zu bessern oder auch nur die Hilfe der Gewerbeinspet. tion in Anspruch zu nehmen. Auch in diesem Fall mußte das Gewerkschaftskartell Reutlingen selbst eingreifen und dafür sorgen, daß solchen Unternehmern die Aufträge der Heeresverwaltung ent­zogen wurden.

Nun zu der Lohnfrage in unseren Wertstätten. Das Kriegsbeklei­dungsamt hat als Lohnfaz für die Instandsetzungswerkstätten den ortsüblichen Taglohn mit 40 Prozent Kriegszuschlag festgesetzt.

Ich habe nie davon gehört, daß die Gauleitung des Tertilarbeiterverbandes sich gegen diese Lohnfestseßung an das Kriegsbekleidungsamt gewendet hätte. Und doch wäre es ihre Pflicht gewesen, darauf zu dringen, daß wenigstens im ganzen Lande gleicher Lohn für gleiche Leistung bezahlt werden sollte. In dieser Weise ist zum Beispiel die Gauleitung des Metall­arbeiterverbandes beim Kriegsministerium immer vorstellig gewor den, und immer mit Erfolg für die Arbeiterinnen!

Aber das wäre freilich praktische Arbeit gewesen, von der die Leitung der württembergischen Textilarbeiter nichts wissen will, ist­fie doch nicht ,, radikal"! Und läßt sie sich doch nicht nur mit Worten erledigen! Sagte doch der Referent einer Versammlung in der Bundes halle im Dezember 1917 in Reutlingen : Wir würden uns schämen,

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erzählt ihnen, was ihr davon wißt, und sei es noch so wenig. Be obachtung, Dankbarkeit und Vertrauen erwächst aus solchem Plau­dern. Sicher freut sich jede so sehr wie ich, wenn ihr Gewißheit wird, daß dies Stückchen Erziehungsarbeit nicht vergebens war. Mir ging es mit meiner Kleinen so: Nach manchem Plaudergang in der Stadt und im Dorf nahm ich die Fünfjährige mit ins Theater. Man gab Aschenbrödel, und sie war froh. Auf wieviel Fragen mußte ich auf dem Heimwege noch Antwort stehen! Dann aber kam eine Frage, die mich bewegte:

" Bati, warum gehen die vielen großen Leute ins Theater?" ,, Weil sie etwas Schönes sehen wollen, Friedel."

Nachdenkliches Schweigen und dann:

Darum, Vati? Es gibt doch so viel zu sehen: die Eisbahn, die Sternlein und den großen Mond, den Springbrunnen, die Soldaten, den Kirchturm..." und was alles das Plappermäulchen aufzählte. Sie kann natürlich die Bedeutung des Theaters nicht begreifen. Aber recht hat sie doch: Es gibt so viel zu sehen." Wie viel besser wäre es für uns alle, wenn wir allezeit wach und mit geschärftem Blick ins Leben sähen.

Die Seele des Kindes.

Des Kindes Seele gleicht dem klaren Quell, Der in das Meer der Liebe sich versenkt, Drum hüte sie vor Leid und Ungemach, Auf daß sie sich dir ganz zu eigen schenkt! Denn in dem Kind hast du dich selbst verjüngt, And all dein Wollen legtest du hinein: So soll es auch ein Abglanz deiner selbst, Dein lautrer Ewigkeitsgedanke sein!

Dann wirst du Jünger und Erlöser sein... Erlöser dessen, was vergänglich ist, Und Jünger des, das in dem Schoße ruht Der Zukunft, deren Säemann du bist....

A. Stahl.