Nr. 16

A. g. XIII

28. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für Arbeiterfrauen und Arbeiterinnen

Mit der Beilage: Für unsere Kinder

Die Gleichheit erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Poft viertelfährlich ohne Bestellgeld 55 Pfennig; unter Kreuzband 85 Pfennig. Jahres- Abonnement 2,60 Mart.

Stuttgart  

10. Mai 1918

Das Frauenwahlrecht in aller Welt. Der Kölner   Hochschulprofessor und Staatsrechtslehrer Dr. Stier- Somlo hat im Verlage von Dietrich Reimer( Berlin  ) eine Arbeit über das parlamentarische Wahlrecht in den Kultur­staaten der Welt erscheinen lassen. Stier- Somlo, ein Anhänger des gleichen Wahlrechts, wenn es mit gewissen Sicherungen gegen die Vorherrschaft der Arbeiterklasse im Staatsleben um­geben ist, widmet in seinent Buche auch dem Frauenstimm recht ein bemerkenswertes Kapitel und erklärt sich für das Frauenstimmrecht. Er widerspricht der Behauptung, daß die durchschnittliche Gleichgültigkeit der Frau gegenüber politischen Fragen das Kennzeichen einer bestimmten Anlage sei, sondern führt sie, wie wir, auf das Ergebnis der Geschichte und Er­ziehung zurück. Zutreffend führt Stier- Somlo für das Frauen stimmrecht die immer größere Kreise ziehende Beteiligung der Frau am wirtschaftlichen Leben und die erstaunlich wachsende Berufsarbeit außerhalb des Hauses an. Ferner spricht er aus: In derselben Richtung wirkt aber auch die Einsicht, daß ge­wisse Aufgaben, die mit dem öffentlichen Wohle aufs innigste zusammenhängen, unter Zuhilfenahme des Frauengeistes, der Frauenkraft und der Frauenerfahrung besser als ohne sie erfüllt werden können. Das gilt zum Beispiel für die Fragen der Volkswohlfahrt im allgemeinen, der Jugend­erziehung und Jugendpflege, einer ganzen Reihe von sozial politischen Aufgaben überhaupt."

Gegen die Philistersprüche, daß der politische Streit nicht in die Familie getragen werden dürfe, wendet Stier- Somlo treffend ein, daß dies eine allzu tiefe Auffassung der politischen Betätigung sei: Wenn immer es sich hierbei um die letzten und wichtigsten Fragen des Gemeinwesens handeln kann, ist eine Auseinandersetzung darüber unter den politisch reif ge­wordenen Angehörigen einer Familie durchaus im Rahmen kultureller Bestrebungen und geistiger Höherentwick lung. überdies gehört jede Auseinandersetzung über staats­politische Dinge zu den Angelegenheiten, die innerhalb des Familienkreises auf die Dauer gar nicht entbehrt wer­den kann und heute schon mehr, als die Gegner des Stimm­rechts wissen, auf der Tagesordnung steht."

Diesen grundsäglichen Bemerkungen fügt Professor Stier­Somlo eine eindrucksvolle Zusammenstellung über den bis­herigen Siegeszug des Frauenwahlrechts in den Stulturstaaten der Welt an. Wir müssen uns hier mit einem knappen Aus­aug begnügen.

Das Ursprungsland der Frauenstimmrechtsbewegung ist Amerika  , wo sie bis in das siebzehnte und achtzehnte Jahr­hundert zurückreicht. In den nordamerikanischen Staaten Vir­ ginia  , New York  , Massachusetts  , New Hampshire   waren die Frauen schon 1699, 1777, 1780 und 1784 im Besitz der poli­tischen Rechte. Seit 1787 wurden diese Rechte in einer Reihe weiterer nordamerikanischen Staaten den Hausbesitzerinnen oder den die Familien ernährenden Frauen zuerkannt, jedoch 1807 wieder entzogen. Im Jahre 1848 setzte die eigentliche amerikanische   Frauenstimmrechtsbewegung ein und erreichte

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an die Redaktion der Gleichheit, Berlin   SW 68, Lindenstraße 3. Fernsprecher: Amt Morigplan 14838. Expedition: Stuttgart  , Furtbachstraße 12.

nach zähen Kämpfen das politische Wahlrecht der Frau in den Staaten Wyoming  ( 1869), Stolorado( 1893), Idaho   und Utah  ( 1896), Washington und Kalifornien  ( 1910), Oregon  , Kansas  und Arizona  ( 1912), Alaska  ( 1913), Kentucky  ) und Michigan  , Nevada   und Montana  ( 1914). In den meisten dieser Staaten ist den Frauen das aktive und passive Wahlrecht zu allen staatlichen und Unionskörperschaften verliehen, ebenso zu allen öffentlichen Ämtern einschließlich der Präsidentenwürde. Das Wahlrecht ist zwar überall ein allgemeines, doch wird in ein­zelnen Staaten eine verschieden lange Aufenthaltsdauer von den Wählern verlangt. In weiteren zehn nordamerikanischen Staaten ist die Einführung des Frauenwahlrechts nur noch eine Frage der Zeit.

In dem nördlich von den Vereinigten Staaten   liegenden Kanada   wurde in den Provinzen Manitoba  , Alberta   und Saskatchewan   den weiblichen Bürgern das volle aktive und passive Wahlrecht zu den Provinzialkörperschaften verliehen. Kenner des Landes behaupten, daß in kurzer Zeit die Frauen auch das Wahlrecht zu dem Staatsparlament erhalten werden. In Neuseeland   erhielten sie 1893 das allgemeine aktive Wahlrecht zu Unterhaus und Senat, sie sind jedoch nicht wählbar. In den Vereinigten Staaten   von Australien  besitzen sie seit 1902 das allgemeine attive, seit 1912 auch das passive Wahlrecht, und zwar zum Senat wie zum Unter­haus. Auch in den Einzelstaaten wurde ihnen das Wahl­recht zu beiden gefeßgebenden Körperschaften zuerkannt, nicht jedoch die Wählbarkeit, mit Ausnahme von Südaustralien  .

In England waren die Frauen zunächst im Besitze des politischen Wahlrechts; es wurde ihnen aber im Jahre 1832 durch die Reformakte wieder genommen. Eine starte Bewe­gung setzte 1851 ein, die mit wechselnder Lebendigkeit bis zum Ausbruch des Weltkrieges anhielt. Der Krieg hat in England, wo bekanntlich in den letzten Friedensjahren die Zusammen­ſtöße zwischen Stimmrechtlerinnen und Stimmrechtsgegnern besonders heftig waren, den letzteren das Rückgrat gebrochen. Im Jahre 1917 hat das Abgeordnetenhaus mit 385 gegen 45 Stimmen das Frauenwahlrecht grundsätzlich in das Wahl­rechtsgesetz aufgenommen. Der Minister des Innern Crewe erklärte am 23. Mai 1917, daß durch den Gesezentwurf sechs Millionen weiblicher Wähler, von denen fünf Millionen ver­heiratet sind, neu geschaffen werden.

In Schweden   gibt es eine Frauenstimmrechtsbewegung seit dem Jahre 1856. Schon seit dem Jahre 1862 besitzen die schwedischen Frauen das kommunale Wahlrecht, und zwar auch die verheirateten Frauen, sofern sie eigenes Einkommen haben, das zuweilen nur zehn Kronen zu betragen braucht. Seit dem Jahre 1909 sind die Frauen auch wählbar in die Gemeinderäte; es sind bisher etwa 77 Frauen gewählt worden. Das Wahlrecht zum Parlament haben die Schwedinnen noch nicht erringen können.

In Norwegen   dagegen hatten die Frauen seit 1907 ein beschränktes Wahlrecht zum Parlament. Es ist 1913 zum all­gemeinen Wahlrecht ausgestaltet worden. Die Frauen sind Wählerinnen und wählbar sowohl bei den Gemeindewahlen