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Die Gleichheit

indirekten Steuern zu tragen hat? Oder ist darin eine Fürsorge des Staates gegenüber den Kindern zu erblicken, daß kinderreiche Fami­lien in Wohnlöchern, in Wohnhöhlen unterkriechen müssen, weil ordentliche Wohnungen in erster Linie nur den Familien mit wenig oder gar keinen Kindern offengehalten werden? Den Kindersegen" macht die kapitalistische Gesellschaftsordnung den Minderbemittelten zu einer unerträglichen Last. Wie soll da bei diesen ein Gefühl der Pflicht zur Kinderzeugung erstehen? Gerade aber die Minderbemit­telten und ganz Armen waren es bisher, welche dem Deutschen Reiche den Geburtenüberschuß stellten.

Wird unter diesen Umständen mit einem Gesez wie dem an­gekündigten eine greifbare Wirkung erzielt werden können? Es ist nicht anzunehmen, wenigstens nicht, solange man zur Erleichterung der Kinderaufzucht nur kleine Hausmittelchen wie eine Vergünstigung bei den direkten Steuern, eine Wochenhilfe, Ermäßigung der Schul­gelder und ähnliches zur Hand hat. Erfordert das Volksganze eine Mehrung der Geburten, so muß in der Aufzucht von Kindern eine Leistung für die Allgemeinheit gesehen werden, der auch die All­gemeinheit, der Staat eine vollwertige Gegenleistung gegen überzustellen hat. Nimmt der Staat dem Weibe das Recht, zu be= stimmen, wieviel Kindern sie das Leben geben ivill, so hat er daraus auch eine unerläßliche Folgerung zu ziehen: er hat selber die Kosten für die Erziehung der Kinder zu tragen.

Bersagt hier das Deutsche Reich, so wird es mit seinen Straf-= bestimmungen zur Förderung der Geburtenfälle kein anderes Er­gebnis erzielen, als es England und Amerika   auf demselben Gebiet mit drakonischen Strafdrohungen bewirkt haben. Fahlbeck berichtet aus den Vereinigten Staaten  , daß die Fruchtabtreibung etwas Gewöhnlicheres geworden ist als die Wochenbetten". Und es bleibt durchaus fraglich, ob Deutschland   noch fernerhin, wie in dem legten Jahrzehnt vor dem Kriege, durchschnittlich einen jährlichen Geburten­überschuß über die Sterbefälle von 800000 bis 900000 aufweisen wird. Höchstwahrscheinlich wird das nur zu erreichen sein, wenn durch einen sowohl in den Ernährungs- wie auch den Erwerbs= verhältnissen sich greifbar geltend machenden Mutterschutz die Säuglingssterblichkeit gemindert wird. In den letzten Jahren vor dem Kriege starben im Deutschen Reich   jährlich fast 300000 Kinder im ersten Lebensjahr. Im zweiten Lebensjahr starben noch 45000, im dritten 16000, im vierten 10000, im fünften 8000, zu­sammen im zweiten bis fünften Lebensjahr jährlich also noch 80000 Kinder. Dabei ist die Sterblichkeit unter den unehelichen Kindern im ersten Lebensjahr doppelt so groß wie bei den ehelichen; sie

und wähnte zunächst, das Kind habe den Ausspruch verstandes­gemäß geformt. Als ich aber nach einigen Wochen die gleiche Frage an ihn richtete, erwiderte er einfach:" Weil du so lieb bist."

Borigen Herbst hatte er mich in Begleitung meiner Frau in Berlin   besucht. Wir machten mehrere Ausflüge und benutten viel die Stadt-, Vororts-, Straßen- und Hochbahnen. Auch einige Seen besuchten wir. Ich war gespannt, welchen Eindruck das gewaltige Weltstadtgetriebe auf die kleine Scele aus der Mittelstadt machen würde, und fragte ihn deshalb nach einigen Wochen, wie es denn in Berlin   gewesen sei. Schön," war die Antwort, und als ich weiter forschte, was er denn da alles gesehen habe, sagte er: " Pferden." Von dem wüsten Durcheinander war nichts in dem Köpfchen haften geblieben. Wohl aber wußte er noch, daß der Zug vor der Einfahrt mehrere Stunden draußen hatte liegen müssen, weil eine Brücke beschädigt war; denn als ich fragte, ob er wieder mit nach Berlin   wolle, lehnte er ab:" Nein, da muß man zu lange warten stehen." Von den Geschwistern erfuhr ich, daß er nach der Rückkehr erzählt hatte, er sei mit dem Unterseeboot gefahren. Das Wort Unterseeboot" hören die Kinder so häufig, und es gibt ja auch Spielzeug dieser Art, daß mich der Ausdruck nicht über­raschte. Ich dachte nun zunächst an eine Verwechslung mit der Untergrundbahn; es stellte sich aber heraus, daß er den flachen Fährkahn zur Überfahrt bei Friedrichshagen   im Gegensatz zu dem großen Müggelseedampfer für ein Unterseeboot gehalten hatte.

Der Kleine flettert fürs Leben gern. Jüngst mußten wir ihn aus drei Meter Höhe von einem Baume herunterholen. Um ihm die Gefahr besonders eines Sturzes aus dem Fenster anschaulich zu machen, bemonstrierte ich ihm: Wenn du herunterfällst, dann brechen dir die Arme und die Beine ab, und der Kopf platzt auf, und der ganze Leib geht kaputt, und aus dem Mund kommt Blut herausgelaufen, und aus den Augen und aus den Ohren tommt Blut, und dann kannst du nicht mehr sprechen und nicht mehr sehen und hören und dich gar nicht mehr bewegen, und dann wirst du ganz falt, und dann bist du tot, und dann kommst du in eine Holzkiste und damit in ein tiefes dunkles Loch, und dann tommt ganz viel nasse schmutzige Erde auf dich; dann- bist du be­

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bleibt auch größer in späteren Jahren. Besonders hier dürften sich ernstliche Fürsorgemaßnahmen, die in erster Linie in der Berufs­bormundschaft mit ärztlicher und geschulter Aufsicht zu finden sind, außerordentlich ergiebig erweisen. Also Mutterschutz, Kinderschutz, unehelichenschuß, weitschauende Sozial- und Fürsorgepolitik, wenn man Kindermehrung will. F. Hend.

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Politische Umschau

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Die Kämpfe im Westen zeigen immer flarer, daß die Entente alles daransezt, eine Entscheidung zu erzwingen. Ungeheure Massen an Menschen und Material werden immer von neuem in den Kampf geworfen. Aber die Deutschen   stehen tief in Frankreich   und Belgien  , und es wird unmöglich sein, fie bis zu Deutschlands   Grenze zurück­zuzwingen. Wenn dieses Ziel der Kriegstreiber in England, Amerika  und Frankreich   erreicht werden soll, dann werden noch einige Gene­rationen blühender Menschenleben vernichtet werden und Europa  mit immer größerer Sicherheit dem Untergang entgegengehen. Im Frühling dieses Jahres wollten die deutschen   Chauvinisten Paris  und Calais  , jetzt wollen deren Gesinnungsfreunde in den Entente­ländern Elsaß- Lothringen   und das linke Rheinufer. Wann wird diefen Leuten hüben und drüben das Handwerk gelegt?

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Anfang September hat der Deutsche Kronprinz einem ungarischen Pressevertreter gegenüber geäußert, daß auch er das Kriegsende nicht von rein militärischen Entscheidungen erwartet, sondern von der besseren Einsicht der Gegner, daß der kolossale Einsatz dent Gewinn nicht gleichwertig ist". Der Vorwärts" fragt dazu: Warum hat Kühlmann eigentlich gehen müssen?" Er mußte bekanntlich dent alldeutschen Sturm weichen, weil er in seiner Reichstagsrede vom 24. Juni dasselbe sagte, was mun, da es uns militärisch etwas schlechter geht, der Staatssekretär Solf und der Deutsche   Kronprinz auch gesagt haben. Es scheint das Verhängnis der deutschen   Politik zu sein, daß sie immer den richtigen Augenblick verpaẞt.

Durch den holländischen Genossen Troelstra wird jetzt bekannt, daß die Mehrheitsparteien des Deutschen   Reichstags sich im An­fang dieses Jahres, noch vor Abschluß des Friedens von Brest­Litowsk, bemüht haben, eine Konferenz mit Vertretern Englands in der Schweiz   zustande zu bringen, daß aber dieser Versuch ge­scheitert sei. Ob die englischen Friedensfreunde die Einladung über­haupt erhalten haben, stehe nicht fest. Der Vorwärts" bestätigt diese Angaben.

graben. Also lege dich nie aus dem Fenster, damit du nicht her­unterfällt und tot wirst. Als nun bald nachher ein Leichenwagen vorübergefahren war, ging er hinterher und forschte am Boden nach Blutspuren; denn er stellte sich die Toten nur noch mit fließendem Blut vor.

Kürzlich hatte er sich an einem Tage gleich zwei Verletzungen zugezogen. Seinem Unwillen gab er wie folgt Ausdruck: Hat man schon einen schlimmen Finger, nu muß man auch noch hin­fallen und ein bluteriges Bein- bekommen." Seine Sprechweise ist ja eine veränderte Nachahmung deffen, was er von den beiden äl­teren Brüdern hört. Hoffentlich folgt er dabei nicht allzu gewissen­haft den Spuren des Dreizehnjährigen: Der verträgt sich nicht gut mit der Großmutter; neulich hatte er die wirklich herzensgute Frau durch pazziges Widersprechen derart erregt, daß sie sich nicht anders zu helfen wußte als mit dem Ausspruch: Junge, du bist ein Teufel!" Darauf erwiderte der Bengel mehr schlagfertig als ehrerbietig: Dann bist du ja des Teufels Großmutter!"

Ricarda Huch  .

( Um Nachdruck wird gebeten.)

xy.

In feinem anderen Lande wird Frauenarbeit, Frauenkönnen, Frauen­geist, Frauengenie so minderwertig eingeschäßt wie in Deutschland  ! Für die Wahrheit dieser Behauptung sind Ricarda Huch   und Selma Lagerlöf   lebendige Beweise.

Wie ehrt ein schwedisches Volk und seine Regierung die größte schwedische Dichterin? Selma Lagerlöf   wurde Mitglied der Akademie der Wissenschaften, ihr wurde der Ehrendoktor verliehen, sie erhielt. den Nobelpreis. Die schwedische Presse ließ sich die Verbreitung ihres Ruhms angelegen sein, Männer und Frauen rühmen sich stolz ihrer großen Landsmännin und lehren ihre Kinder in Ehrfurcht den Namen nennen.

Und Deutschlands   größte Schriftstellerin: Ricarda Huch  , dieses gottbegnadete Genie, wer weiß von ihr, wer rühmt sich ihrer, wer schätzt sie richtig ein? Nur eine kleine Zahl von Menschen im