Nr. 11

29. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für Arbeiterfrauen und Arbeiterinnen

Mit der Beilage: Für unsere Kinder

Die Gleichheit erscheint alle vierzehn Tage einmal. Preis der Nummer 15 Pfennig.

Durch die Post bezogen vierteljährlich ohne Bestellgeld 95 Pfennig; unter Kreuzband Mr. 1.45.

Stuttgart  

28. Februar 1919

Weimar  .

Fast ein Jahrhundert lang lag das liebe alte Weimar   ab­seits von dem breiten Wege, auf dem das große und laute Geschehen der Weltgeschichte dahinrollte. Es schlief einen Dorn­röschenschlaf. Die überlieferungen einer vergangenen Zeit höchster Größe und Weihe hüteten den Schatz, den der Name Weimar   in sich barg.

Die Entwicklung Deutschlands   nach den Befreiungskriegen und nach dem Tode Goethes war so ganz anders gewesen, als sie der Geist Weimars vortrug. Jm Weimar Goethes und Schillers hatte der deutsche   Geist die Herrschaft geführt, deutsche   Kunst und deutsche   Wissenschaft, deutsche   Dichtung und deutsche   Philosophie, geistige Geselligkeit und die mo­ralische Zucht der Schaubühne hatten von Weimar   aus die Tore und Straßen nach allen Enden der Welt geöffnet und den deutschen   Namen überall zu hohen Ehren gebracht.

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Das Deutschland   aber, das sich im neunzehnten Jahrhundert nach den Zwangsgeboten der Heiligen Allianz   unter der Füh­rung Rußlands   politisch gestaltete, wollte von Kunst und Wissenschaft, von Dichtung und Philosophie nichts wissen. Sein Zepter war der Korporalstod, seine Methode die Unterdrückung des freien Wortes, sein Ziel die Umwandlung Deutschlands  311 einer großen Kaserne, in der alles auf den Befehl von oben wartet und ihm blindlings gehorcht. Der Mittelpunkt dieses neuen Deutschland   verschob sich von der Jlm nach der Spree  , von Weimar   nach Berlin  . Goethe aber empfand vor diesem Berlin   schon 1823 eine starke Abneigung: Es lebt, wie ich an allem merke, dort ein so verwegener Menschen­schlag beisammen, daß man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern daß man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muß, um sich über Wasser zu halten." Der Kapitalismus wuchs in Deutschland   heran, gewaltsam, ungebärdig, mit den Manieren eines Emporkömmlings. Db. wohl er später aufgestanden war als in anderen Ländern, glaubte er doch seine Konkurrenten mit ihren Mitteln einholen und, wenn möglich, schlagen zu müssen. Zu diesem Zwecke schuf er sich eine politische Einheit, rücksichtslos, unter Ver­legung berechtigter Empfindlichkeiten im Osten und Westen, im Rorden und Süden. Eine ungeheure, kostspielige Kriegs­maschine in Gestalt eines stehenden Heeres sollte diese Ein­heit schützen, nach innen und nach außen. Und drohend wurde die gepanzerte Faust jedem unter die Nase gehalten, der etwa an der Allmacht und Vorzüglichkeit des neuen deutschen Kaiser­reichs zu zweifeln wagte.

Bis der ungeheuerlichste kriegerische Zusammenstoß tam, den die Weltgeschichte je erlebt hat, und hinterher der schmähliche Zusammenbruch eines auf Gewaltherrschaft aufgebauten, inner­lich aber längst morschen und brüchigen Systems!

Zuschriften find zu richten an die Redaktion der Gleichheit, Berlin   SW 68, Lindenstraße 3. Fernsprecher: Amt Morigplatz 14838. Expedition: Stuttgart  , Furtbachstraße 12.

... Wählen Sie Weimar   zu Ihrem Wohnort. Es gehen von dort die Tore und Straßen nach allen Enden der Welt." Goethe zu Eckermann. Alles, worauf das Deutschland   des neunzehnten Jahrhun­derts gebaut hatte, war dahin! Alle politischen Ziele von einst in den Staub gesunken! Dahin die schimmernde Wehr eines volksfremden Militarismus! Dahin die unersättlichen Pläne ehrgeiziger Machtpolitik! Dahin die uferlosen Bereicherungs­bestrebungen rücksichtsloser kapitalistischer Wirtschaft!

Und die, die einst unten gestanden hatten, verhaßt und ver­folgt, sie standen jezt oben und ergriffen die schleifenden Zügel der Regierung. Die deutschen   Arbeiter wurden zu Rettern Deutschlands  , der Sozialismus, eine geistige Macht, setzte sich an die Stelle der zusammengebrochenen militärischen und bureaukratischen Macht. Das machtlüfterne Deutschland   des neunzehnten Jahrhunderts wurde zur weltgeschichtlichen Epi­sode. Das neue Deutschland   der Demokratie und des Sozia­lismus knüpfte wieder an das politisch unbedeutende, kulturell und in der Schäzung der übrigen Welt aber hochgeachtete Deutschland   Kants, Goethes und Fichtes an. Es erfüllt sich in einer ungeahnten Weise das prophetische Wort Engels', daß die deutsche   Arbeiterklasse die Erbin der Klassischen deutschen  Philosophie ist.

Nicht als ob wir in das kleinstaatliche Elend des Deutsch­ lands   jener Zeit zurück wollten. Nichts lehnen die deutschen  Arbeiter mit größerer Entschiedenheit ab! Sie wollen ein einiges, großes und einheitliches Deutschland  , in dem der Strom der wirtschaftlichen Entwicklung breit dahinströmen kann. Nicht aber wollen sie politische und wirtschaftliche Macht um dieser Macht willen und um damit anderen Ländern aufzutrumpfen. Sondern sie wollen ein gesundes Wirtschaftsleben, durchflutet vom Geiste des Sozialismus, um darauf ein gesundes und starkes Volksleben zu erbauen und aus ihm wiederum als schönste Blüte ein reiches, vielgestaltiges Kulturleben empor­wachsen zu lassen.

Mag es aus diesem oder jenem Grunde angezweifelt wor­den sein, ob Weimar   der richtige Ort für die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung ist, mögen ernste politische Gründe dagegen sprechen, daß man aus Berlin   fortgezogen ist, so ist doch Weimar   als Symbol, als Ausgangspunkt einer neuen Zeit unübertrefflich gut gewählt.

Mögen die nach dem freiesten Wahlrecht der Welt gewählten Männer und Frauen Deutschlands  , die die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung bilden, in den nächsten Wochen und Monaten gute Arbeit leisten! Mögen sie einen guten und festen Grund legen für die Zukunft des neuen Deutschland  ! Der Krieg hat Deutschland   ausgeschlossen von der Welt- möge die Nationalversammlung   das Wort Goethes über Weimar   in einent neuen Sinne wieder wahr machen: Es gehen von dort die Tore und Straßen nach allen Enden der Welt."