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Die Gleichheit

berechtigt, so dürfen auch zarte Rücksichten auf sie nicht mehr ge= nommen werden.

Genoffin Kähler sträubte sich auch keineswegs. Sie fand sich sofort mit Geschick und Humor in die neue Lage und präsidierte dem ersten Tage, wie es ein männlicher Alterspräsident auch nicht besser ge= macht hätte.

Vor Entsetzen bogen sich lediglich die Balken des ostpreußischen Landeshauses: da, wo sonst nur ostpreußische Junker zu sagen hatten und ein hochgeborener Graf oder sonstiger Filou aus un­verfälschtem ostelbischen blauen Blute das Zepter führte, saßen ge­wöhnliche Männer und Frauen, zum großen Teil Arbeiter und fast in der Mehrheit Sozialdemokraten und nicht alle in Ostpreußen  geboren oder dort ansässig. An der Spize aber thronte eine Frau, noch dazu eine Sozialdemokratin, noch dazu eine geborene Schleswig­Holsteinerin. Wie sich die Zeiten geändert haben!

Die sozialdemokratischen Frauen

an den Reichspräsidenten.

Am Dienstag, dem 11. Februar, hat die deutsche National versammlung dem deutschen   Volte ein Oberhaupt gegeben. Unser Parteigenosse Frik Ebert, bisher der Vorsitzende der Partei und der sozialdemokratischen Fraktion, ist der hohen Ehre gewürdigt worden, der erste Führer Deutschlands   von Volkes Gnaden zu werden.

Am Abend des bedeutungsvollen Tages übersandten die Frauen der sozialdemokratischen Fraktion dem neuen Reichs­präsidenten einen schönen Strauß leuchtend roter Nelfen und den folgenden Brief:

Lieber Genosse Ebert  !

Die Sozialdemokratische Frauenfrattion freut sich, dem ersten deutschen   Reichspräsidenten, dem auch die Frauen ihre po= litische Befreiung mit verdanken, ihre herzlichsten Glück­wünsche aussprechen zu können.

J. A.: Marie Juchacz  .

Weimar  , den 11. Februar 1919. Darauf ist der Genossin Juchacz   die folgende Antwort zu­gegangen:

Unsere Frauen

in der deutschen   Nationalversammlung. Ist auch die Zahl der ersten Genossinnen, die in Deutschland   in das parlamentarische Leben eingetreten sind, nicht groß, so sind sie doch nach ihrer Zusammensetzung tatsächlich als eine würdige Ver­tretung der Frauen ganz Deutschlands   zu betrachten. Sowohl von der nordischen Wasserkante als auch aus Süddeutschland   sind die Vertreterinnen des Proletariats erschienen; die besetzten Gebiete des Westens ebenso wie des von Polen   und Russen bedrohten Oftens haben Frauen gesandt.

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Aber auch die Persönlichkeiten dieser 19 Frauen, die jetzt in Wei­ mar   Schulter an Schulter mit unseren Genossen an dem Wieder­aufbau unseres deutschen   Vaterlands arbeiten, geben ein getreues Bild unserer Parteigenossenschaft im Reich. Wenn wir auch was gewiß für die gedeihliche Arbeit unserer ersten weiblichen Abgeord­neten nur von Vorteil sein kann in der Fraktion Genofsinnen haben, deren Kindheit und Jugend frei von der Not des Proleta­riats war und die deshalb, mit reicherem Wissen ausgerüstet, durch eigene wissenschaftliche Erkenntnis sich zur sozialdemokratischen Weltanschauung durchgerungen haben, so entstammt doch der weit­aus größere Teil unserer Frauen den arbeitenden Schichten. Die wirtschaftliche und geistige Not des Proletariats ist ihnen nicht er­spart geblieben, und es hat sie schwere Kämpfe, manche durchwachte Nacht gekostet, sich die Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen, die ihnen heute das Vertrauen ihrer Wähler gebracht haben.

Das ist zum Beispiel der Fall bei der Herausgeberin der Sozial­demokratischen Artikelforrespondenz und Redakteurin des Zentral­organs des Verbands der Hausangestellten, Wilhelmine Kähler  , die wohl den meisten unserer Leserinnen wenigstens dem Namen nach bekannt sein dürfte. Wenn es dieser in der Provinz Ostpreußen   gewählten Genossin vergönnt ist, heute mit 54 Jahren im Rate derjenigen mitzuarbeiten, die die unendlich schwere und doch so verlockende Aufgabe erfüllen sollen, die deutsche Republik zu einem Staate des ganzen Volkes zu machen, so erntet sie in Wahrheit die Früchte ihrer Lebensarbeit. Von sieben Kindern das

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Weimar, den 11. Februar 1919.

An die Sozialdemokratische Frauenfraftion. Liebe Genossinnen!

Haben Sie vielen Dank für Ihre herzlichen Glückwünsche und Ihr ebenso herzliches Geschent. Hoffen wir, daß unsere ge= meinsame Arbeit am Wiederaufbau unseres unglüd= lichen Landes und zur Wiederaufrichtung unseres ar­men Volkes, vor allem unserer so schwer geprüften Mütter und Frauen, von Erfolg sein werde.

Ihr

Fr. Ebert.

Mit freundlichem Gruß Diesem Wunsche des Genossen Ebert schließen wir uns aus vollem Herzen an.

Aus unserer Bewegung

Bernburg  . Jahrzehntelang heiß umkämpft und von Tausenden von Frauen innig ersehnt war das Wahlrecht für uns Frauen plöẞ­lich, wie über Nacht, errungen. Fast möchte ich sagen: es famt noch zu früh! Unsere Frauen sind sich noch so wenig bewußt, was es heißt, gleichberechtigt zu sein. Sie meinen, noch nicht befähigt zu sein, an den Geschicken des Staates und des Wirtschaftslebens mit­zuarbeiten. Leider ist es ja eine bedauerliche Tatsache, daß der Krieg gerade den Frauen durch die unendlichen Sorgen auf allen Gebieten nur wenig Zeit zu geistiger Weiterbildung ließ. Deshalb stehen viele Frauen scheu und ein wenig unsicher vor den großen und folgen­schweren Aufgaben, die ihnen die Umwälzung gebracht hat. Da ist es eine der wichtigsten Aufgaben, für Aufklärung und Ausbildung der Frauen zu sorgen. Diese Aufgabe fällt zuerst der Parteiorgani­sation zu. Empfehlenswert wären Vortragsabende für Frauen und besondere Frauenversammlungen des Parteivereins, so wie wir es hier schon seit langem halten. Monatlich finden sich die Genossinnen zusammen. Auf der Tagesordnung ist stets ein interessanter be­lehrender Vortrag. Daran schließt sich eine Aussprache und Ver­schiedenes. Unsere Genossinnen waren dann jedesmal sehr befriedigt. Wenn wir uns aber in Zukunft auch mit den wichtigsten Pro­blemen zu beschäftigen haben, so darf man doch nie vergessen, daß wir Anfänger sind. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, und unsere führenden Genossen und Genossinnen haben auch erst lernen müssen und lernen alle Tage noch hinzu. Sie müssen uns jetzt helfen und uns abgeben von ihrem Können und ihren prat­

zweitjüngste, mußte fie von ihrem siebenten Lebensjahr an mit­arbeiten, da der Vater gestorben war. Nachdem sie ihre Schul­kenntnisse in der dreiklassigen Dorfschule ihres Heimatorts Kelling­ husen   in Holstein erhalten hatte, war sie einige Jahre Wirtschaf= terin im Hause des bekannten Dichters Detlev v. Liliencron  , bis fie infolge ihrer Verheiratung nach Hamburg   kam. Hier hielt sic mit 23 Jahren ihren ersten Vortrag anläßlich des großen Bigarren­arbeiterausstands, und seitdem ist sie ununterbrochen für die Ar­beiterbewegung tätig gewesen, sowohl gewerkschaftlich als Begrün­derin und zeitweilige Zentralvorsitzende des Verbands der Fabrik­und Handarbeiterinnen und als Mitglied der Generalfommission der Gewerkschaften Deutschlands  , wie auch politisch ganz besonders im Interesse der Frauenbewegung innerhalb unserer Partei, nach­dem sie ihr Wissen durch fleißige Arbeit an sich selbst und Teit­nahme an der Parteischule in Berlin   mehr und mehr erweitert hatte.

Eine gleich harte Kindheit verlebte die in Sachsen  ( erster Wahl­freis) gewählte 45jährige Genossin Ernestine Luze, die eben­falls infolge des Todes ihres Vaters vom neunten Jahre an frem­des Brot essen mußte. Vor ihrer Ehe als Dienstmädchen tätig, er= lernte sie nach ihrer Verheiratung den Beruf der Blumenarbeite­rin, in welcher Eigenschaft sie zur Mitbegründerin und zum Vor­standsmitglied des Blumenarbeiterverbands wurde. Seit der Zeit ist sie hauptsächlich gewerkschaftlich, aber auch politisch sowie wäh­rend des Krieges in der Wohlfahrtspflege ihres Wohnorts Dresden  tätig, zu welchem Zwede sie ihre Volksschulfenntnisse in der Ge­wertschaftsschule in Berlin   erweiterte. Während sie durch ihren Mann dem Sozialismus zugeführt wurde, war es die vor einigen Jahren verstorbene Genoffin Ihrer, die sie zur öffentlichen Betäti­gung anregte.

Ebenfalls aus Sachsen  ( dritter Wahlkreis) fommt inna Schilling. Als Kind einer Tabatarbeiterfamilie war von frü­hester Jugend an Arbeit ihr Los, und sie, die mit 41 Jahren als Mutter von sechs Kindern in die Nationalversammlung eingezogen ist, hat kaum je Zeit gefunden, die Hände in den Schoß zu legen. Nachdem ihr die Erkenntnis von der Richtigkeit unserer überzeu