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Die Gleichheit

über die deutschen   Ernährungsnöte besser Bescheid gewußt hat als in Deutschland   selbst. In England wurden bereits während des Krieges Statistiken veröffentlicht, die sich eingehend mit dem Erfolg der Blockade beschäftigten: der Epidemie der Tuberkulose, dem Hungertyphus, den Sterbe­fällen der deutschen   Zivilbevölkerung und sofort. England und seine Staatsmänner waren sich also der furchtbaren Wirkung ihrer Waffe voll und ganz bewußt. Dagegen werden irgendwelche Ausführungen deutscher   Aerzte oder gar zuständiger Regierungsstellen über die Folgen des Unterseebootkrieges auf den Gesundheitszustand des eng­lischen Volkes oder gar die Kindersterblichkeit kaum auf. gezeigt werden können. Aber nicht nur dies. Während des Krieges wurde in Deutschland   behördlicherfeits jede Beröffentlichung der von Aerzten und Jugendfürsorgern gemachten Beobachtungen über die auftretenden bösen Fol­gen der Unterernährung verboten. Wissenschaftlichen Zeitungen, die derartige Ausführungen hatten bringen wollen, wurde sogar das Verbot des Erscheinens angedroht. Die Behörden befürchteten, durch die öffentliche Behand­lung des Notstandes die Bevölkerung zu beunruhigen und das Ausland über unsere schlechte Ernährungslage zur Ernährungslage zur unterrichten. Der schlimmste Druck wurde seitens der militärischen Stellen ausgeübt, um die traurige Wirklich feit zu verschleiern. Dabei erfuhren die unbemittelten Schichten der großen Städte die furchtbare Wahrheit tag­täglich am eigenen Leibe. Und das feindliche Ausland war durch Agenten und Spione durchaus auf dem Laufenden, so daß im Herbst 1918 englische Aerzte die Tatsache feststellten, daß die deutsche Rasse ruiniert" und" unausrottbarer Schaden" der deutschen Jugend durch die Hungerblockade zugefügt sei.

Wie auf allen Gebieten, so hat das alte System der Ver­tuscherei hier schweren Schaden angerichtet. Während wir uns im Felde zu Tode siegten, verkündigten die zensurier­ten Pressestimmen, daß es mit der Gesundheit des Volkes aufs Beste bestellt sei. Durch die Hemmung der Bericht­

Bücherschau

Die Zähmung der Nornen"*

So mußt du sein, du kannst dir nicht entgehen."

Goethe.

Ueber

Nunmehr ist der sechste Band der Entwicklungsstufen der Menschheit" erschienen: Die Zähmung der Nornen". zwei Jahre ist es her, seit Müller- Lyer   starb; die zerfleischende Brutalität des verbrecherischen Menschenmordes hat ein Ende gefunden; aber schauernd erleben wir die fürchterlichen Folgen, die dieser Krieg gezeitigt hat und noch zeitigen wird;- ja, hat - ja, hat nicht der Verfasser recht, wenn er sagt, es werde manchem als Vermessenheit oder doch als utopistische Verstiegenheit erscheinen", von einer Zähmung der Nornen" zu sprechen?

"

,, Aber ich meine," fährt er fort, gerade dieser Krieg sollte uns gezeigt haben, wohin die ungebändigte Macht der Natur führt, wenn wir uns in Demut und Stumpfheit vor dem Schicksal neigen und es ergeben über uns ergehen lassen; gerade der blutige Wahnsinn dieses Strieges müßte uns dazu auffordern, dem Schicksal entgegenzutreten, dem sinnlos waltenden Zufall das Zepter aus der Hand zu winden und mit aller Macht und mit allem wissenschaftlichen Vorbedacht darauf zu sinnen, der Ver­munft Schritt für Schritt in den menschlichen Dingen zur Herr schaft zu verhelfen!"

A. v. Gleichen- Nußwurm hat recht, wenn er sagt, daß der Krieg, dieser Krieg, nicht nur gefeltert, sondern unaussprechlich ge­tangweilt" habe, trok aller Ungeheuerlichkeiten, die seinem ver­fluchten Schoß entwachsen. Technisch und sogar physisch zeigte sich der Mensch seiner selbstgeschaffenen Hölle merkwürdig ge­wachsen- aber, seltsam, seelisch ist er es nicht. Naiv bemerkte

* Verlag von Albert Langen  , München  . Preis broschiert 7,50 Mt., gebunden: 10 M.

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erstattung gelang es tatsächlich, die Aerzteschaft und das " Volk" über die wirklichen Vorgänge im Lande weit­gehendst im unklaren zu lassen.

Jetzt, wo die Schranken der Zenfur gefallen sind, werden nun von den verschiedensten Fachleuten Untersuchungen über die Einwirkungen des Nahrungsmangels auf den Ge­sundheitszustand des deutschen   Volkes angestellt. Das Material ist noch nicht vollständig. Immerhin geben die bis jetzt ermittelten Tatsachen ein furchtbares Bild. Geheimrat Dr. Hamel, Medizinalreferent im Reichsamt des Innern, beziffert auf Grund sorgfältiger Berechnung die Todesopfer der Blockade im Jahre 1917 auf 260 000 und im Jahre 1918 auf 294 000 Todesfälle, wobei die durch Grippe verursachten Todesfälle, die ebenfalls mit der Widerstandslosigkeit des durch die Blockade geschwächten Körpers im Zusammenhang stehen, nicht mit eingerechnet sind. Für die Jahre 1915 bis 1918 werden 763 000 Todes­opfer der Blockade errechnet. Nach den amtlichen Zahlen erhöhen sich die Sterbefälle der deutschen   Zivilbevölkerung im Jahre 1915 um 9%, im Jahre 1916 um 14 Prozent, 1917 aber um 32 und 1918 um 37 Prozent gegenüber dent Jahre 1913. Als Todesursache geben verschiedene Krank­heiten geradezu erschreckende Zahlen an. Erkrankungen der Atmungsorgane gab es in deutschen   Städten über 15 000 Einwohner im Friedensjahr 1913: 46 000, im Jahre 1917: 61 6000; 1918: etiva 70 000. Hierzu kommen zum Teil als Folge der Hungerblockade die Todesfälle an Grippe, die allein im Sommer und Herbst 1918 150 000 betrugen. Entsprechend stieg die Zahl der Todesopfer der Tuberkulose von 40 374 Personen im Friedensjahr 1913 auf 81 800 im ersten Halbjahr 1918, also mehr als eine Berdoppelung. In denselben Orten stieg die Sterblichkeit an Rindbettfieber von 21,9 Prozent im Jahre 1913 auf 28,7 Prozent im Jahre 1916, auf 32,8 Prozent im Jahre 1917, auf 36,7 Prozent im ersten Halbjahr 1918.

Der Zusammenhang dieser Krankheiten mit der Hunger­blockade liegt vollständig flar. Statt der für den mensch

ein Soldat: es ist alles zu groß, oder wir sind zu flein."* Und diese Auffassung ist wahrlich nicht Alleinbesitz des Philosophen. Es sei an Henry Barbusse   erinnert, der in seinem Menschheits­buch Das Feuer" zum Sprecher der Millionen Kämpfer wird, die sich draußen im Dreck und ewig drohendem Tod als Feinde auf Befehl gegenüberliegen; an Romain Rolland  , der im Namen der denkenden Menschheit spricht, wenn er, aus dem innersten Fühlen bereits die notwendige Erkenntnis und Forderung ge­winnend, sagt: Jeder, der andern nühen will, muß vor allen Dinger frei sein. Sogar die Liebe ist nichts wert, wenn es die eines Sklaven ist."

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Dieses Erlebnis des Krieges" in der Brust jedes einzelnen ist der Faden, an dem angefnüpft werden muß. Hier seht die Arbeit derjenigen ein, denen das Erlebnis sich schon zur bewußten Menschheitserkenntnis und Menschheitsforderung formte, der­jenigen, die wahrhaft und wahrhafte Führer des Voltes ( der Völfer) fein wollen: Künstler, Philosophen, Gelehrte, Bo­litifer. Ein Ziel haben Kunst und Wissenschaft, wenn auch die Wege verschieden sind. Nur die Politik der Regierungen geht immer andere Straßen...

Die Soziologie, die modernste der Wissenschaften, wird bei den Zukunftsarbeiten im Menschheitsdienste eine starke Mithelferin

fein.

" Manchem wird zwar wohl die Stimme der Wissenschaft noch ferner gerüdt sein, als es leider schon vorher der Fall war; bei jenen andern aber, die das positive Wissen als befreiende Machi im Leben der Völker erkannt haben, wird vielleicht gerade das Interesse für die hier in Betracht kommende Wissenschaft, für die Gesellschaftslehre oder Soziologie, noch gea stiegen sein."

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* A. v. Gleichen- Rußwurm  , Der freie Mensch. Berlag von Otto Reichl, Berlin  . Preis 7,50 Mt.

** Aus dem Vorwort des Romans L'Un Contre Tous" bon Romain Rolland  ( zitiert nach der Tat", Juni- Heft).