Nr. 33

29. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für die Frauen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Mit den Beilagen: Für unsere Kinder. Die Frau und ihr Haus

Die Gleichheit erscheint wöchentlich

Preis: Monatlich 1,20 Mart, Einzelnummer 30 Pfennig Durch die Post bezogen vierteljährlich ohne Bestellgeld 3,60 Mark; unter Kreuzband 4,25 Mark

Der Kampf um die Jugend

Berlin

4. Oftober 1919

Der Kampf um die Jugend hat in der letzten Zeit Formen angenommen, die jeden verantwortungsvollen Menschen trau­rig machen und empören müssen. Die reaktionären Parteien begnügen sich nicht damit, daß die Schulentlassenen in den politischen Tageskampf gezerrt werden, sondern die Kinder sind ihnen gerade gut genug, um sie als Waffe zur Erkämpfung ihrer Ziele zu gebrauchen. In Stettin streiften die Schüler der höheren Lehranstalten, angeblich, weil sie das Wiederauf hängen der Kaiserbilder in den Klassenzimmern verlangten. In Gotha sollen die Schulkinder streifen, um gegen den Schul­erlaß der Gothaer Regierung, der den Eltern nicht paßt, zu protestieren. In Stettin gaben sich die Drahtzieher der Schüler­streits noch den Anschein, als ob es sich um eine spontane Kundgebung der Kinder selbst handele; in Gotha verkünden die Väter offen, daß sie ihre Kinder nicht in die Schule schicken werden, bis ihr Wille erfüllt ist.

In vielen Schulen werden die Kinder von patriotischen" Lehrern und Lehrerinnen aufgebracht gegen die heutige Staatsform und gegen die Regierung; die Religionsstunde muß vielfach der politischen Beeinflussung dienen. Katholische Pfarrer bringen es fertig, sogar den Widerstand gegen die Eltern zu propagieren. Wohin soll das führen? Hat der fünf­jährige Krieg nicht schon genug Unheil angerichtet an den Seelen der Kinder? Muß das Verwüstungswerk fortgesetzt werden? Dieselben Kreise, die heute bedenkenlos die Schul­finder in den Dienst ihrer Sache spannen, konnten vor dem Kriege nicht genug darüber skandalieren, daß die Arbeiterschaft versuchte, ihr eigen Fleisch und Blut: die Arbeiterjugend, nach der Entlassung aus der Schule zu sammeln und in ihrem Sinne fürs Leben zu erziehen.

Damals war es so, daß acht Jahre lang das Schulkind ein­seitig fonfessionell- nationalistisch beeinflußt wurde. Daneben wurde versucht, die Jungen und Mädels ungefähr vom 10. Lebensjahre ab in Vereinigungen zusammenzuschließen, in denen bei Spiel, Sport und Unterhaltung dieselben Ziele ver­folgt wurden. Der Zweck war, zu erreichen, daß die Kinder nach der Schulentlassung in diesen ihnen liebgewordenen Ver­einigungen blieben und nicht zur Arbeiterjugend gingen.

Nun soll und muß das alles anders werden. Eine neue Staatsform ist durch den Willen der Volksmehrheit an die Stelle der alten getreten. Die Regierung der Republik aber hat die Pflicht, für eine öffentliche Erziehung in dem neuen, freiheitlichen, demokratischen Sinne zu sorgen. Den Eltern­bleibt es natürlich unbenommen, die häusliche Erziehung nach ihrer Weltanschauung zu gestalten und mit den gesetzlich er­laubten Mitteln die Durchsetzung ihrer Ideen in der öffent lichen Erziehung zu propagieren. Unter keinen Umständen aber dürfen die Kinder zu Kampfesmitteln entwürdigt wer den. Was wäre wohl geschehen, welcher Sturm der Ent rüfting wäre in monarchistisch gesinnten und auf dem Boden der konfessionellen Erziehung stehenden Kreise losgebrochen, Wenn wir es unter dem so drückenden und entwürdigenden

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Zuschriften sind zu richten an die Redaktion der Gleichheit, Berlin SW 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Amt Morigplay 147 40 Expedition: Berlin SW 68, Lindenstraße 3

alten System versucht hätten, auf dem Wege über unsere Kin­der unsere Weltanschauung in der öffentlichen Erziehung zum Ausdruck zu bringen; unsere Kinder zum Widerstand gegen die bestehende Ordnung aufzustacheln. Was hätten die Herr­schaften, die heute den Schulstreik proklamieren, wohl gesagt, wenn wir versucht hätten, die Schule gar politisch zu beein flussen; wenn wir die Schulkinder benugt hätten, um die be­stehende Staatsform zu ändern. Die Leute, die vor dem 9. November von der Frau in der Politik nichts wissen woll­ten, weil die Politik den Charakter verderbe, sollten sich doch hüten, die Kinder hineinzuziehen.

Kinderseele ist heiliges Land. Durch den Krieg ist es ent­heiligt worden, für Allzuviele bleibt es das verlorene Para­dies. Für alle verantwortungsvollen Eltern aber muß es die höchste Aufgabe sein, das Kinderland wieder zu geweihtem Boden zu machen, in das wir Erwachsenen immer von neuem mit wehmütiger Ehrfurcht und reiner Liebe eintreten.

Aber auch um die Seelen unserer Jugendlichen muß mit anderen Mitteln gerungen werden, als das durch den Krieg Unfitte geworden ist. Hierzu soll ein weiterer Artikel folgen. Es muß wieder Friede werden in unseren Kindern.

Clara Bohm- Schuch .

Revolution des Geistes

Ein Beitrag zur Menschheitserziehung Von Karl Diesel

In der jüngsten Zeit ist eine eigentümliche Erscheinung zu­tage getreten, die zu denken gibt: es läßt sich eine ganz auf­fällige Wendung zur Kulturauffassung Schillers, zum Schiller­schen Kulturgedanken und Kulturideal feststellen. Einfach aus­gedrückt: Bu Schiller.

Hier muß ich, um jedem Mißverständnis vorzubeugen, etwas einschalten: der Himmel behüte uns vor einer Wieder­kehr des Schillerkults, der Beweihräucherung, vor einer Wieder­holung jener gräßlichen Anhimmelei und gedankenleeren An­schwärmerei, vor jenem bierselig- urgermanischen Bathos, dem Wilhelm Raabe in seinem Dräumling" ein Denkmal gesetzt hat, vor einer Neuauflage der Sauche des Jahres 1905, das durch seine offiziellen Schillerfeiern schon in unmündigen Kindern und Säuglingen die tiefste, verständnisvollste Liebe" zu dem gottbegnadeten Dichter", dem wahren Dichter der Deutschen " züchtete. Der Teufel hole endlich die dürren, qual vollen Schulstunden, in denen dieses Dichters( und anderer) Dramen und Gedichte nach verwässernden Besprechungen" in ihre sämtlichen grammatikalischen und sonstigen Bestandteile zerlegt wurden, um schließlich zu dem Brzi eines in Länge, Breite und Tiefe genau vorgeschriebenen Schulauffages ein­gerührt zu werden. Nichts hat zur gründlichen Verkennung Ses Dichters und seines Lebenswertes mehr beigetragen, als die ihm nach seinem Tode so reichlich zuteil gewordene offi­zielle Anerkennung", die feine andere Wirkung bezweckte als eine gründliche Unschädlichmachung des Schillerschen Freiheits­gedankens. Nur so wurde, um mit Alexander v. Gleichen­

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