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Die Gleich beit

selbstverständlich unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Einzel­länder. In den Uebergangsbestimmungen der Verfassung wird gesagt, daß auf ihren Wunsch den Ländern die Zölle und Ver­brauchssteuern noch auf eine angemessene Zeit belassen we г= ben können. Sicher wird sich im Laufe der Zeit erweisen, daß der einheitliche Reichsgedanke durch die Steuerhoheit des Reichs stark beeinflußt wird.

Ferner wird das Post- und Telegraphenwesen, die Eisen­bahnen und die Verwaltung der Wasserstraßen in die Hände des Reichs überführt. Dadurch wird auch auf dem großen Gebiet des Verkehrs ein für alle mal mit den Sonderrechten der Einzelländer aufgeräumt. Auch hierbei mußte eine Uebergangsfrist gewährt werden. Aber vom 1. April 1921 wird es feine bayrischen Brief­marfen, feine preußisch- hessische, württembergische, fächsische und bayrische Staatseisenbahn mehr geben, sondern nur noch eine Reichseisenbahn. Auch die Wasserstraßen werden dann in die Hände des Reichs übergegangen sein.

Unter dem siebenten Abschnitt der Verfassung ist an erster Stelle die Unabhängigkeit der Richter garantiert. Ihre An­Anstellung geschieht nach wie vor lebenslänglich. Sie können strafversetzt oder ihres Amtes enthoben werden, aber nur kraft richterlicher Entscheidung. Wohl bei manchem Sozialdemokraten rangen bei der Entscheidung hierüber Gefühl und Verstand mit einander. Gar zu sehr sind wir in der Vergangenheit daran ge= wöhnt worden, in jedem Richter den geborenen Vertreter einer der unserigen entgegengesetzten Weltanschauung zu sehen. Kalei­boskopartig zogen die Klaffenurteile früherer Zeiten an uns vor­über. Jedoch der Grundsatz der Unabhängigkeit der Richter ist gesund und mußte Leitgedanke sein. Auch die Möglichkeit der Klaffemurteile von links muß vermieden werden, das erfordert die Gerechtigkeit. In einem wirklich demokratischen Staat muß sich auch der Richterstand innerlich wandeln. Auch eine Reform der Strafgesetze wird hoffentlich ihr Teil dazu beitragen. Es handelt sich bei der Rechtspflege selbstverständlich nicht nur um Schuld und Sühne. In Handel und Gewerbe, im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verkehr der Menschen untereinander sind Rechtsfragen zu entscheiden.

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Die ordentliche Gerichtsbarkeit steht den Einzelländern zu.

Aber auch das Reichsgericht ist beibehalten. In Artikel 105 steht der kategorische Sah: Die militärischen Ehrengerichte sind auf­gehoben. Sturz und ohne Beremonien wird beseitigt, was so oft Gegenstand des Aergers und Spottes gewesen ist. Trotzdem wer­den sich die oft sonderbar und lächerlich anmutenden Ehrbegriffe" und Standesvorurteile bestimmter Kreise noch länger halten.

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Feuilleton

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Weißt du, welcher im Leben fein eigener Freund ift?- Der ift es, der wie ein Feind wacker fich felber bekämpft. Hamerling.

Frauengestalten des 19. Jahrhunderts

Von Anna Blos , M. d. N.

II.

Charlotte Stieglitz .

n Charlotte Stieglit, einer Frau, die mit ihrer eigenen

I Benjönlichkeit weit über ihre Zeit und ihre Umgebung

Hinausragte, endete der Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit tragisch. Sie war im Grunde ein Mensch mit selbständigen Ansichten, befand sich häufig im Widerstreit mit traditionellen Begriffen, aber ihre Erziehung war der damaligen Zeit entsprechend nicht darauf gerichtet, ihre Persönlichkeit zu entwickeln, ihre großen geistigen Anlagen auszubilden. Deshalb hatte sie nicht den Mut, sich selbst zu folgen, sondern suchte die Erfüllung ihrer Sehnsucht in der Liebe zu dem Manne, dem sie all ihre reichen Gaben zu Füßen legte, in der Hoffnung, dadurch ihre Ideale ver wirklicht zu sehen. Als sie diese Hoffnung vernichtet sah, da folgte sie zum erstenmal sich selbst, indem sie in den Tod ging.

Charlotte Stieglitz , geborene Willhöft, war die Tochter eines Hamburger Kaufmanns. Sie wurde am 18. Juni

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Es fehlt ihnen aber nun das Instrument, um vernünftiger den­kenden Menschen ihrer Kreise ihre Ehrbegriffe" aufzuzwingen oder ihnen gar Ghre und Existenz abzuschneiden.

Viel weniger bestimmt und nicht sofort wirksam ist dagegen der Artikel 106. Er lautet: Die Militärgerichtsbarkeit ist aufzuheben, außer für Kriegszeiten und an Bord der Kriegs­schiffe. Das Nähere regelt ein Reichsgeseh.- Solange dieses Reichsgesetz noch nicht vorhanden ist, glaubt man auf die beson­deren militärischen Strafgesete noch nicht verzichten zu können. Der Artikel 108 bringt uns die Bestimmung, daß nach Maß­gabe eines Reichsgesetzes ein Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich errichtet werden muß. Die Verfassung weist in den verschiedensten Artikeln dem noch nicht vorhandenen Staats­gerichtshof seine Aufgaben zu. Wo immer Zweifel oder Mei­nungsverschiedenheiten zwischen den höheren Reichs- und Landes­behörden über die Anwendung der Verfassung bestehen, soll der Staatsgerichtshof entscheiden, ebenso, wenn zwischen den Einzel­ländern im Fall einer Abtrennung oder Vereinigung Vermögens­streitigkeiten entstehen. Auch die Verfassungsver­Iehungen durch den Reichspräsidenten , den Reichskanzler oder einen Reichsminister können vom Staatsgerichtshof geahndet werden, wenn der Reichstag die Anklage der betr. Personen beschließt. Nach den Uebergangs­bestimmungen der Verfassung soll ein aus dem Reichstag und dem Reichsgericht gewählter Senat von sieben Personen die Be­fugnisse des Staatsgerichtshofs ausführen.

Mit dem Artikel 108 endet der I. Hauptteil der Verfassung, der die eigentlich positive Gesetzgebung enthält.

Wilhelm Blos

bollendet am 5. Oftober sein 70. Lebensjahr. Als er geboren wurde, sanken zu Rastatt , in der Nähe seines Heimatsortes Weinheim in Baden , unter den Kugeln des Standrechtes die gefangenen Freiheitskämpfer der bürgerlichen Revolution bon 1848/49 ins Grab. Wie weltenfern steht uns Nach­geborenen jene Zeit, die doch mit ihrem Kampf um politische Rechte den Grund legte zu der proletarischen Revolution, in der wir uns jetzt befinden. Schon als Zwanzigjähriger an demokratischen Zeitungen seiner weiteren Heimat als Redakteur tätig, kam Blos in Berührung mit der sozialistischen Gedankenwelt und übernahm, eine gutbezahlte, aussichtsreiche

1806 geboren, kam aber nach dem frühen Tod ihres Vaters nach Leipzig . Ihre Mutter hatte wenig Verständnis für das seltsame Kind, das keine Freude am Spielen hatte. Charlotte saß am liebsten in ihrem Stübchen und las und schrieb dort. Schon damals verrieten ihre schriftlichen Ar­beiten ein ziemlich selbständiges, reiches und poetisch er­regtes Innenleben. Auch später zeigen ihre Briefe eine freie Natur, die sich nicht leicht vor Autoritäten beugt. Sie wagte selbst Schriften von Goethe zu kritisieren und nannte seine Werke aus seinen späteren Lebensjahren Produkte des alten Goethe, im Gegensetz zu seinen unbedingten Ver­ehrern, die vom alten Goethe sprachen. Sie schwärmte für die Freiheit und nannte sich selbst eine Republikanerin und Demagogin.

Niemand bildete ihre außerordentlichen Geistesgaben aus und führte sie zu einer nußbringenden Tätigkeit. So kam es, daß ihre Teilnahme für alle höheren Interessen, ihr Hingebungsbedürfnis an alles Schöne sich nur auf eine einzige Leidenschaft konzentrierte, auf die Liebe. Mit 16 Jahren lernte sie den Studenten Hinrich Stieglitz kennen. Daß der junge Mann mit der weißen Burschenmüze wegen dema­gogischer Umtriebe von Göttingen vertrieben war, machte ihn dem für Freiheit schwärmenden Mädchen von vorn­herein interessant. Als sie hörte, daß er Dichter war, er­blickte sie, in der im Grunde eine Dichterin schlummerte, in Stieglitz die Verkörperung der Sehnsucht nach Poefie, nach Schönheit. Sie glaubte in ihm das Ideal ihres Lebens gefunden zu haben, und in ihrer Schwärmerei stellte sie ihn auf das Piedestal, dessen Höhe der Wirklichkeit absolut nicht entsprach. Schon in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft