Nr. 35

Die Gleichheit

Diese Notiz, die auch in andere holländische Blätter überging, und manche Gemüter start erregte, hatte eine lebhafte Diskussion in den Spalten des N. R. C." zur Folge. Die Einsender bc­kannten sich durchaus zur Auffassung Vitours, stritten sich aber über die Frage, ob das Gesetz wirklich für die ganze Schweiz Geltung habe. Schließlich glaubte man festgestellt zu haben, daß es nur für den Kanton Waadtland gelte. Endlich wurde der Sachverhalt, wenigstens soweit es sich um den Geltungsbereich des Gesetzes handelt, geklärt durch eine Zuschrift des Dr. Suter, ehemaligen Mitglieds des Großen Rats für den Kanton Waadt­land, der sich zufällig in Holland aufhielt. Danach ist das Straf­geseb ,,, das unter bestimmten Voraussetzungen fünstlichen Aborius ftraffrei läßt, weder für die ganze Schweiz , noch für den Kanton Waadtland zuständig". Es sei vielmehr lediglich mit geringer Mehrheit- bom Großen Rat, d. h. durch die geseßgebende Ver­sammlung des Kantons Basel- Stadt beschlossen worden. Man müsse wissen, daß die Strafgesetzgebung in der Schweiz noch Sache der 25 Miniatur- Staaten sei. Der seit langem in Arbeit be­findliche Entwurf für ein einheitliches Strafrecht wird", so schrieb Dr. Suter zum Schluß, zweifellos dem gewagten Experiment des Bajeler Gesetzgebers ein Ende machen."

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Es wäre wohl wünschenswert, zu erfahren, ob der Inhalt der umstrittenen Bestimmung richtig wiedergegeben ist. Alsdann ließe sich beurteilen, ob die Bestimmung in Wahrheit nicht ledig lich einen Versuch darstellt, sozial denkende Aerzte für bestimmte Fälle von der furchtbaren Geißel drakonischer Strafbestimmungen zu befreien, wie sie in fast allen Ländern noch bestehen. Mit dem Ueberdies Erfolge, daß das Verbotene heimlich gemacht wird. oft von Laien oder den Schwangeren selbst. Mit verhängnisvollem Resultat. Und wofür in Frankreich , nach Dr. Vitour zu ur­teilen, im Falle der Anklage es die Geschworenen selten über sich bringen, das harte vernichtende Schuldig auszusprechen.

Just als vorstehende Zeilen gepostet werden sollten, kam mir ein Artikel im Nieuwen Amsterdamer", einer der angesehensten holländischen Wochenschriften zu Gesicht, worin der Verfasser ( Frans Coenen) ein mehreres über den Inhalt des in Rede stehenden Artikels mitteilt. Aus dem Artikel erfahren wir, daß bas so heftig angegriffene Gesetz in erster Linie einige Voraus­jebungen für erlaubten Abortus einführt, über deren Notwendig­keit und wahre Moralität es unter verständigen und verant­

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Feuilleton

Von der Menschheit- du kannst von ihr nie groß genug denken; wie du im Bufen fie trägit, prägt du in Taten fie aus.

Auf

Die Geige im Karst

Von Artur Zidler

Schiller.

uf weißen Wolfenschiffen segelt der Frühling über den Karst. Sein Atem wärmt den dörtigen Wuchs des Bodens und trägt den Duft der gelben Aurelia, der Blume des Karstes, über die Geröllhänge. Die Sonne steht strahlend int tiefen Blau. Die Schatten der Wolfen streichen wie fühle Hände das lichtberauschte Land.

In den österreichischen und italienischen Stellungen, die in paralleler Entfernung von etwa 150 Meter das steinige Plateau durchpflügen, herrscht Ruhe. Es zwitschert in den Drahtverhauen, und hoch in der Luft fliegt ruhig ein Raub­bogel.

Die Wiener Scharfschüßen geben sich der wohligen Behag­lichkeit des Tages hin, bilden Gruppen zum Plaudern und Startenschlagen, oder lehnen rüdlings an die Grabenwand und träumen ins Unendliche.

Franz'l, gib' fiir, daß Dir nit eins auffigt!" lacht einer und läßt seine Handharmonika stöhnenden Atem holen.

Na", sagt der Angeredete kurz und tritt von der Scharte zurück, wo er das eingespannte Gewehr gerichtet hat. Dann schiebt er die Stappe noch weiter auf den Hinterkopf, hat auf einmal dicke Falten auf der hohen Stirn und den Ausdruck unendlicher Langeweile in den Augen. Darauf setzt er sich

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wortungsvollen Menschen kaum einen Zweifel geben sollte. Die Voraussetzung, wegen der die Ley Welti" von ihren Gegnern in Grund und Boden verdammt worden, ist also nur eine, freilich die weitgehendste unter den neuen Bestimmungen. Diese aber ist, wie Coenen glaubt berichten zu können, gerade dem Ansturm der Gegner erlegen, d. H. sie ist bei der Abstimmung durchgefallen. Da nun einmal dieses auch für Deutschland aktuelle Thema, an dem in erster Linie die Frauenwelt beteiligt ist, auf diese Weise aufgerollt worden, wird es auch die Leserinnen der Gleich­heit" interessieven, zu erfahren, daß es nichtsdestoweniger in Hol­ land auch Leute gibt, die es wagen, das Problem ohne die obligate frömmelnde Prüderie und unbekümmert um die inter­nationale Erscheinung altehrwürdiger Heuchelei zu besprechen. Zudem scheint uns der Auffah Coenens ein beachtlicher Beitrag zur Kritik unserer wurmstichigen, aber nichtsdestoweniger noch immer geltenden Gesellschaftsmoral.

Der Verfasser erfreut sich übrigens bei seinen Betrachtungen cines Vorzugs. Als Angehöriger eines vom Kriege verschont ge= bliebenen Landes steht er bei seiner Beurteilung der Sache nicht unter der oft hysterisch anmutenden Angst gewisser Bevölkerungs­politiker. Nämlich, daß ungenügender Geburtenüberschuß un­bedingt die Zukunft des Landes und Volfes bedrohe". Eine An­sicht, die z. B. in Deutschland bereits wieder in altgewohnter Weise propagiert wird.( Es geschah unlängst noch in einem offiziös- bevölkerungs - statistischen Waschzettel, der sogar von Partei­blättern kritiklos abgedruckt wurde.) Und das, obwohl Deutschland vor Glend nicht weiß, wie es die wenigen Neugeborenen lebens­fräftig großfriegen und den durch den Annexionsfrieden, ent­standenen Bevölferungsüberschuß ernähren soll. So daß man auf das gewiß nicht glückliche Mittel der Auswanderung verfällt, dessen Anwendung überdies von der Gnade der Entente­länder abhängt, die eins nach dem andern die Deutschen - selbst nach Unterzeichnung des Friedens hinauswerfen und Ein­wanderungsverbote gegen Deutschland erlassen.

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Nach dieser kleinen Abschwenkung zurück zur Sache. Coenen schreibt ( aus Raumrücksichten seien nur die wichtigsten Stellen wiedergegeben): " Diese Ler Welti hat reichlich viel moderduftenden Staub sitt­licher Entrüstung" aufgewirbelt. Derartige Entrüstung ist meist einigermaßen bedenklich, wenn sie quasi ,, allgemein" ist. Es geht. dann in der Regel um etwas anderes als um Sittlichkeit, näm­lich um gesellschaftliche Interessen, für die man flugs ein mo­

neben die anderen, greift nach der Uhr und konstatiert mono­ton: Zwanzig nach fünf." Hernach: O Pepi!"

Der hat nur einen halben Blick, ist ganz bei seiner Orgel. Die Töne des Gassenhauers hüpfen bald schmetternd, bald in gedämpftem, melodischem Gedudel den Graben entlang und über die Brustwehr ins freie Gelände. Pepi wiegt dabei den Kopf im Takte und seine Lippen bewegen sich:

Mädchen sind wie die Engelein..."

Einmal bricht er ab, lacht über sein volles Gesicht, jagt: ,, Na, Herr Kapöllmeister!?" und fängt was Neues an.

Franz ist in Gedanken versunken. Er hat beide Hände auf die Knie gelegt, sieht sie immer an und wundert sich beimlich. Seine Finger! Lang sind sie immer noch, und auch nicht dick, aber die feinen, weißen, schlanken Finger von ehemals sind hin. Ja, der Spaten ist fein Taftstock und der Schießprügel fein Fiedelbogen. Ueberhaupt: es wäre ihm früher undenkbar gewesen, so etwas auszuhalten; er mit seinen Lebensgewohn­heiten und den ganz der Kunst zugewandten Sinnen! Es war gegangen, sogar überraschend schnell, und er war auch ganz Mann an der Flinte, wenn er auch, wie sich seine Kame­raden ausdrückten, den Rot bis oben jatt hatte". Das sind so Redensarten beim Militär, die an des Mannes Ehrgefühl greifen, wie daß man kein Dreckferl sein darf", bis zum ver­biffenen Wie's fommt, wird's gefressen!" und so zwingt man's eben.

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Man ist Soldat doch das kann nicht hindern, daß Stun­den kommen wie die jetzige, wo das Himmelslicht zum blen­denden Kronleuchter wird über einem mit Menschen gefüllten Konzertsaal. Er senkt wieder seinen Blick in tausend Augen und weiß, jeder trägt ein Stück der Gottessehnsucht heim, die aus seiner Geige singt.