Nr. 36

Die Gleichheit

ist das Land, mehr noch wie die Stadt, von der Seuche der Zuberkulose furchtbar bedroht. Kann man aber eine wirk­fame Bekämpfung dieser Krankheit ohne Wohnungsver­besserung sich denken? In gleicher Weise sind alle ansteckenden Kinderkrankheiten eine größere Gefahr auf dem Lande wie in der Stadt, da ja den Landbewohnern bei ansteckenden Krank­heiten die Unterbringung ihrer Familienmitglieder in Kran­kenhäusern oder Anstalten schwerer möglich ist. Auch die Säuglingssterblichkeit ist auf dem Lande eine höhere. Licht, Luft und Sonne kämpfen nur zu oft vergeblich gegen alt­gewohnte Vorurteile und übernommene Sitten.

Da gilt es vorsichtig und doch unermüdlch zu werben, zu überwachen, zu überzeugen, zu betreuen und nimmer müde auf alles zu achten, was auf dem Gebiete der Fürsorge an Mitteln zur Besserung des vorhandenen Zustandes möglich ist. Kann man die Mütter der Kinder nicht in Mütter­beratungsstellen versammeln, um ihnen dort allgemeine und besondere Aufklärung zu geben, so versuche man es, die großen Mädchen, im Alter von 12 bis 14 Jahren, in der Säuglingspflege zu unterrichten. Der Kreisarzt des Kreises Hannover  , Dr. Karl Dohrn, berichtet in einem Aufsatz über die Organisation der Säuglingspflege auf dem Lande in der Zeitschrift für Hebammenwesen, Mutterschutz und Säuglingsfürsorge", daß der von den Kreispflegerinnen im Kreise Neustadt   a. Rbge. durchgeführte Unterricht an größe ren Mädchen von gutem Einfluß auch auf die Mütter war, denen Gelegenheit gegegen wurde, bei den kleinen ab­gehaltenen Schlußprüfungen der Veranstaltungen nahezu

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treten.

Ist auch die Säuglingspflege nur ein fleiner Teil der großen Aufgaben der Kreisfürsorgerin, die nicht nur ein tüchtiger, arbeitsfroher Mensch, sondern auch eine gute Dr­ganisatorin sein muß, so kann doch nur wieder gesagt wer­den, daß gerade der große Vorteil der Einrichtung darin liegt, daß man das ganze Gebiet der Fürsorge nicht trennt, jondern in einer Hand vereinigt. Arbeitet eine Frau sich in ihrem Kreise ein, so kann sie dort von großem Segen sein, denn das bewegliche, mitgehende Herz der Frau wird nie­mals in dieser Arbeit ermüden, sondern immer von neuem

tischem Geist ihre Entwicklung vorauszusehen. Zur Zeit, als die Bourbonen   wieder nach Frankreich   zurückgekehrt waren und andre höchstens meinten, daß sie durch die Or­ leans   abgelöst werden könnten, erklärte Rahel: Allen Fran­zojen liegt die Republik   in den Gliedern und Republik  werden sie werden. Wer fann alle Zwischenszenen be­rechnen? Aber die großen Ereignisse von aushaltender ge­schichtlicher Gestalt gehen darüber hinweg und machen dar aus den Staub ihres Weges." Damals hielt man diese Prophezeiung für etwas abenteuerlich. Aber der Gang der Geschichte hat ihr recht gegeben.

So freudig sie auf eine wahre geistige Befreiung Deutsch­ lands   während der Befreiungskriege gehofft hatte, so eifrig und tatkräftig sie sich als Pflegerin bewährt hatte, um als Frau mitzuwirken bei dem großen Werk, so bitter war sie enttäuscht durch die Reaktion, die nach dem Wiener   Frieden einjezte. Ihr, die erfüllt war von dem Geiste Lessings, Goethes, Herders  , Schillers und Rants, schwebte als höchstes Ideal die bürgerliche Gleichberechtigung aller Stände und Sonfessionen, edle Geistesfreiheit und. wahre Herzensbildung vor. Der Kampf für diese Ideale führte sie mit Barnhagen von Ense   zusammen, mit dem fie fich im Jahre 1814 in glücklichster Ehe verband. Und nun erst ging ihr das rechte Verständnis für die Stellung der Frau in der menschlichen Gesellschaft auf.

Aus der Zeit ihrer Ehe stammen die tiefen Gedanken über die Ehe und das weibliche Geschlecht, die geradezu eine -Jensationelle Wirkung ausübten, als sie durch ihren Brief­wechsel der Allgemeinheit bekannt wurden, den Barnhagen nach ihrem Tode herausgab. Ich kenne kein Buch, in welchem so wie in diesem kein Buchstabe tot ist", schrieb

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durah Mitgefühl und Mitleid zur energischen Arbeit sich ver­anlaßt fühlen.

Die für das Amt der Kreisfürsorgerin herausgebrachten Bestimmungen vom 10. September 1918 bedürfen wahr. scheinlich in manchen Punkten der Abänderung. Die prak­tische Befähigung zu dem Amte wird und muß an erster Stelle stehen, wenn auch eine gute und gründliche Vorbil­dung in der Säuglings- und Krankenpflege wohl kaum zu entbehren entbehren sein wird. Aus dem großen Kreis von Schwestern, die auf sozialem Gebiet arbeiten, wird man wahrscheinlich zunächst Fürsorgerinnen gewinnen, die, wenn ihre Begabung auf dem Gebiete der Landfürsorge liegt, ein wertvoller Bestand dieses wichtigen Fürsorgezweiges werden. Es ist nicht unbedingt notwendig, daß alle im Reichs­gesundheitsblatt XLIII Nr. 25 Seite 335-337 geforderten Kenntnisse bei einer Kreisfürsorgerin vorhanden sind, unbe­dingt erforderlich aber ist so scheint es mir- neben einer guten Allgemeinvorbildung die im Leben erwiesene Befähi­gung, soziale Arbeit mit warmem Herzen und klaren Augen leisten zu können. Es ist mit Freude zu begrüßen, daß das Ministerium des Innern schon eine neue Prüfungsordnung für Fürsorgerinnen auf dem Lande genehmigt hat. Demnach kann der geforderte Nachweis der Schulbildung durch eine Vorprüfung erbracht werden. Es ist somit nicht mehr not­wendig, daß die Bewerberinnen für Fürsorgeprüfungen ein Lyzeum oder eine Mädchenmittelschule besucht haben. Diese Er­leichterung in den Aufnahmebedingungen zu einer Fürsorge­rinnenprüfung gilt in der Hauptsache ländlichen Bewerbe­rinnen, die sich für den Beruf eignen, denen es aber nicht möglich war, den von vornherein als Bedingung geltenden Nachweis der höheren Schulbildung zu erbringen. In Aus­nahmefällen fann durch den Minister des Innern eine Be freiung von der Vorprüfung eintreten, z. B. bei Bewerberin­nen in gereiftem Alter, die sich schon in der Wohlfahrtspflege bewährt haben. Wenn auch noch immer, gerade auf dem Lande Aufwachsenden, das Eintreten in die soziale Arbeit erschwert ist, da ihnen wenig Gelegenheit zur Vorbildung und zur Einarbeit auf sozialem Gebiete geboten wird und in der Regel die Arbeit auf anderen Gebieten in den Vorder­Wilhelm v. Humboldt. Und noch heute lebt dieses Buch, denn vieles von dem, was Nahel bewegte, und was sie mit prophetischem Geist voraussah, das erfüllt heute die Welt. Sie gab Gedanken Ausdruck, die weit ihrer Zeit voraus­eilten, die man damals kaum zu denken wagte. Vor allem forderte sie völlige Freiheit der Persönlichkeit für die Frau, auch in der Che. Sie trat damit der Anschauung entgegen, daß die Frau nichts Höheres fennen dürfe als die Forde­rungen und Ansprüche ihres Mannes. Es ist Menschen­unkunde", schrieb sie, wenn sich die Leute einbilden, unser Geist sei anders und zu andern Bedürfnissen konstituiert, und wir könnten gonz von des Mannes Existenz mitzehren." Die Scheidung, die damals als Schande für die Frau an­gesehen wurde, hält sie überall für eine Forderung der Moral, wo die Liebe in der Ehe fehlt. Ist intimes Su­sammenleben ohne Zauber und Entzücken nicht unanstän Ist Aufrichtigkeit diger als Ekstase irgendeiner Art? möglich, wo Unnatürliches gewaltsam gefordert werden fann?" Freiheit fordert sie für die Frauen, denn die Frei­heit ist das, was wir notwendig brauchen, um das sein zu Der erste können, was wir eigentlich sein sollten. Mangel an Freiheit besteht darin, daß wir nicht sagen dürfen, was wir wünschen und was uns fehlt."

Wundervoll und auch wieder ihrer Zeit weit voraus ist das, was Nahel über die unverheirateten Mütter und die unehelichen Kinder schreibt: Natürliche Kinder werden die genannt, welche keine Staatsfinder sind, wie Naturrecht und Staatsrecht. Kinder sollten nur Mütter haben und deren Namen haben, und die Mutter das Vermögen und die Macht der Familie. So bestellt es die Natur; man maiß diese nur sittlicher machen. Ihr zuwider handeln, gelingt