Nr. 38

29. Jahrgang

Die Gleichheit

Zeitschrift für die Frauen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Mit den Beilagen: Für unsere Kinder.

Die Gleichheit erscheint wöchentlich

Preis: Monatlich 1,20 Mart, Einzelnummer 30 Pfennig Durch die Poit bezogen viertelfährlich ohne Bestellgeld 3,60 Mart; unter Kreuzband 4,25 Mark

Berlin

8. November 1919

Die Frau und ihr Haus

Zuschriften find zu richten an die

Redaktion der Gleichheit, Berlin SW 68, Lindenstraße 3 Fernsprecher: Amt Morigplas 14740 Expedition: Berlin SW 68, Lindenstraße 3

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Zum 9. November!

eburtstag der Revolution! Du Tag, der uns die Befreiung brachte aus den Ketten der Knechtschaft und des Leides, wir grüßen deine Wiederkehr!

Die politische und soziale Freiheit brachtest du uns; die geistige Freiheit konntest du uns nicht bringen; ihr Heiligtum muß uns durchquellen, wenn wir sie besigen wollen, fie muß in uns wachsen und werden und unser Menschentum gestalten. Aber die Revolution zerbrach die Schranken, welche diese Gestaltung hemmten.

Nun können wir frei sein, wenn wir wollen! Die Sehnsucht nach der großen, goldenen Menschen­freiheit muß in uns brennen als lodernde Flamme. Sie muß vor uns herleuchten auf dem Weg, den die Revolution weiter schreitet und der uns noch durch dunkle, bange Gründe führen kann. Strahlend stand die Allmutter Sonne über uns in jenen Novembertagen vor einem Jahr. Mitten in Tod und Vergehen ging der Atem neuen Werdens durch die Welt. Veilchen blühten und Lerchen sangen.

Wir hatten aus dem Kelch bitteren Leides und Wehes trinken müssen Jahr um Jahr, und so viele mußten ihn leeren bis auf den Grund. Männer starben, Kinder verdarben, wir schafften ums Brot! Bis der Erlösungstag kam. So selbstverständlich zerbrach das Volk seine Ketten und rein hätte unser wehes Glück sein können, wenn es nicht die harten Bedingungen der Sieger beschattet hätten. Die ihr Leben opferten, gaben es für die Freiheit des Volkes hin. Ihnen sind wir alle den Dank schuldig, daß wir unsere durch die Revolution geschaffene Republik erhalten.

Und dann kam der Tag, an dem wir in Berlin unsere Toten begruben. Als heiliges Symbol wird er über meinem Leben stehen. Der Himmel war grau verschleiert, Ernst und Stille umspann die hunderttausende Menschen und eine Sinfonie von Schönheit, Leben, Freundschaft und Liebe stieg aus dem Meer von Blumen empor.

Die schlichte Tribüne, welche Bruno Taut geschaffen, ragte in ihrem rot- grünen Schmuck auf dem kahlen Felde wie ein Wahrzeichen des zielklaren Lebenswillens trotz aller Armut und Not. Acker­pferde zogen die schweren Wagen, welche die Särge trugen. Musik schwebte lindtröstend über die unabsehbaren und unsichtbaren Züge. Denn sie alle gingen ungesehen mit uns, die da draußen ver­blutet waren über vier Jahre lang. Unsere Hände faßten unsichtbare Hände und unsere Kränze waren all den Millionen geflochten, deren Gräber wir nicht schmücken konnten. Und unsere Herzen sprachen ein Gelöbnis in diesen Stunden: Wir wollen Freie werden im freien Staat!

Stürme brausten, Wolkenschatten gingen über sonniges Land. Bruderblut floß, Scham und Schmerz fluten durch die Erinnerung.

Und dennoch: das Haus der Freiheit ist aufgerichtet in diesem ersten Jahr der Revolution; die deutsche Republik steht auf dem festen Grund einer Verfassung. Daß freie Menschen im freien Clara Bohm- Schuch . Hause wohnen, muß unser Wert sein und unser Wille!