Nr. 41/42
Die Gleich beit
fich hierbei nicht nur um die Interessen der Frauen und Kinder, sondern um die unferes gesamten Volfes und der Menschheitsentwicklung handelt.
Auch der Parteitag wird neben den prinzipiellen viel dringende Gegenwartsforderungen behandeln. Hierbei tritt wieder das wirtschaftliche Moment in den Vordergrund. Die Wohnungsfrage fann meines Erachtens nur im Zusammenhang mit der Frage der Arbeitsmöglichkeit und Arbeitsbeschaffung gelöst werden. Die Beziehungen zu unseren Bruderparteien in den anderen Ländern, unsere ganze Stellung in der Zweiten Internationale ist flarzustellen.
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Mit großen Erwartungen sehen unsere Parteigenossen und Genossinnen und darüber hinaus weite Kreise des deutschen Volkes nach Kassel . Mit Spannung die übrige Welt. Das deutsche Volk will heraus aus dem Niederbruch, in den es der Krieg und der ihm nachfolgende Friedensvertrag getrieben haben. Es will empor; es will arbeiten und schaffen. Und e 3 erwartet bom sozialdemokratischen Parteitag die Wegrichtung, die es zunehmen Clara Bohm- Schuch .
hat.
Die Frauenfrage im neuen Parteiprogramm
Der Parteitag zu Cassel stellt die Erneuerung des Parteiprogramms zur Diskussion.
Und draußen im Land horchen die Genossinnen sehnend auf, ob in diesen Beratungen auch ihre tiefsten Nöten einen klaren Ausdruck finden. Sie lockt nicht der Rausch individuellen Auslebens. Wenn sie Forderungen stellen, so wissen sie, daß Freiheit verlangen, heißt Verantwortung tragen wollen, Verantwortung für sich selbst, für die Familie, für die Gesellschaft. Sie sind sich bewußt, daß kein Gesellschaftssystem das Problem des menschlichen Gemeinschaftslebens glücklich zu lösen imstande ist, wenn es nicht ge lingt, die Glieder der Gesellschaft in ihrer Totalität zu diesem Verantwortungswillen zu erziehen.
Dieser Wille zur Verantwortung für alles Geschehen innerhalb der Gemeinschaft ist heute bei einem großen Teil der Frauen noch nicht vorhanden, weil man ihm den besten Nährboden, die Freiheit, verweigert hat.
Seit der Erfüllung der politischen Gleichberechtigung der Frauen sind freilich viele wachen Sinnes geworden. Aber auch hier haben wir erleben müssen, daß es uns erging wie Don Quichotte in der Dichtung. Als er nämlich in schönem menschlichen Mitleid die Gefangenen aus einem Gefängnis befreite, da wußten diese mit ihrer Freiheit nichts besseres anzufangen, als daß sie ihren Befreier fast zu Tode prügelten. Siehe die Wahlen im Januar 1919 und im Juni 1920!
Wir wollen uns heute aller Verwürfe gegen die eine oder andere Seite enthalten. Ganz zu vermeiden war das Ergebnis nicht, weil eben auch die Frau genau so wie der Mann, nur über die wirtschaftliche Freiheit zur geistigen aufsteigt.
Aber diese Erkenntnis mußte bei dem männlichen Teil des Proletariats, der durch die Schule sozialistischen Denkens gegangen war, lebendiges Gut sein, mußte seinem Wollen und Tun die Richtung im Alltagsleben gegeben haben. Das war nicht geschehen. Nichts unterschied den Proletarier in seinem Besizerstandpunkt der Frau gegenüber von den bürgerlichen Geschlechtsgenossen. Und so mußten die Genossen in zwei bitter schweren Jahren lernen, daß es für unsere Partei eine Frauenfrage gibt, und daß das Uebersehen dieser Tatsache an die Lebenswurzel der Partei greift. Die einzelnen Genossen müssen also allen Hemmungen zum Troß, welche ihnen Gewohnheit und unsoziale Justinkte bereiten, eine ganz andere innere Einstellung zur Frauenfrage nehmen.
Die Gesamtpartei aber kommt nicht um die Verpflichtung herum, durch ihr Programm die Einheitlichkeit des Weges
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und der Zielsetzung zu sichern. Das Ziel scheint mir eindeutig Entwicklung der Frau zum selbstbewußten, selbst verantwortlichen Menschen, der seine besten Kräfte freiwillig und freudig dem Gemeinschaftsdienst einordnet, also thre Entwicklung zur Sozialistin.
Ueber die Wege, die zu diesem Ziel führen, mögen die Ansichten zurzeit noch auseinandergehen, obwohl in mancher Beziehung schon ein einheitlicher Wille vorhanden ist, besonders was die Menderung des Bürgerlichen Gesetzbuches und des Strafrechtes betrifft.
Anders steht es mit der Stellung zur Frauenarbeit. Aber hier gibt uns die historische Entwicklung lich, wo eine starke Differenzierung der Arbeit stattgefunden einen nicht mißzuverstehenden Fingerzweig. Ueberall da nämhat, wo die Menschen ihre Abhängigkeit voneinander in ihrer Arbeit gespürt haben, da finden wir auch den Boden bereit für sozialistische Erkenntnisse. Und die Undifferenziertheit und Isoliertheit der Hausarbeit der Frau ist vielleicht einer der vorherrschendsten Gründe für ihre soziale Unreife. Das wird immer noch zu wenig in die Rechnung eingestellt. Und so kommt es, daß Sozialisten, anstatt das historische Geschehen des Hereinflutens der Frauen in die differenzierte Gemeinschaftsarbeit als Entwicklung zum Sozialismus hin zu begrüßen und möglichst fruchtbar zu gestalten, was doch genau gesehen ihre Aufgabe wäre, sich dieser Entwicklung in der individualistischsten und unvernünftigsten Weise widersetzen. Hoffentlich bringt das neue Parteiprogramm darüber restlose Klärung.
Hand geht aber die wirtschaftliche Befreiung der Frau; sie hört auf geliebter oder lästiger Besitz von Eltern oder Mann Ausnahmefällen gewesen ist: ein Eigenwesen. Alle zu sein, sie wird endlich, was sie nie, oder nur in glücklichen springen aus diesem Bewußtsein. Zu diesem Bewußticin guten und wirklich sozialen Gedanken und Gefühle entmüssen aber auch die Frauen kommen, die den größten, den wichtigsten Dienst in der Gemeinschaft leisten, die Mitter. der Mutterschaft und wirtschaftliche Befret Wir verlangen als sozialistische Frauen Freiwilligkeit ung unserer Mütter. Wir erinnern die Träger des sozialistischen Gedankens an den erschütternden Schrei einer Clara Müller- Jahnke :„ Erst müßt ihr freie Menschen sein, um freie Menschen zu gebären." Wir fügen hinzu: und zu erziehen. Wir sind uns bewußt, daß die Forderung der wirt. schaftlichen Befreiung der Mütter von der Gemeinschaft große Opfer verlangt. Wir wissen, daß diese Opfer, mag man von der Notwendigkeit noch so überzeugt sein, nicht heute und nicht morgen geleistet werden können. Aber wo nähmen wir den Mut zum Leben und Arbeit her, wenn wir nicht über heute und morgen hinweg in eine Zeit gelinderen wirtschaftlichen Druckes zu sehen vermöchten! Und ein Parteiprogramm hat nicht nur die Aufgabe, wichtige Gegenwartsforderungen aufzustellen, es muß auch Perspektive besigen.
Mit diesem Eintreten in die Gemeinschaftsarbeit Sand in
Es war natürlich nicht möglich, im Rahmen dieses kurzer Artikels die Frauenfrage zu„ behandeln". Es konnten nur ein paar der wundesten Punkte aufgezeigt werden, um daran #ussion der Frauenfrage bei Beratung des Programms die Notwendigkeit einer eingehenden Dis.
darzutun.
Wir wissen auch, daß den Frauen der Löwenanteil bei der Befreiung der Frau bleiben wird: unermüdliche Selbsterziehung, unermüdliche Aufklärungsarbeit, unermüdlicher Glaube an die sozialen Kräfte der Frau.
Wir hoffen diesen Kampf zu führen nicht gegen die Genossen, sondern in treuer Gemeinschaft mit ihnen: gegen Egoismus und Gewalt, zu Sozialismus und reinem Menschentum! Toni Pfülf